Für die selbsterklärte Wertegemeinschaft Europa ist es ein unwürdiges Bild: Immer wieder sitzen aus Seenot gerettete Migranten tagelang auf Rettungsschiffen fest, weil die nahe gelegenen Mittelmeerländer Malta und Italien ihre Häfen nicht öffnen wollen. Es sind Menschen, die vor den Folterlagern in Libyen fliehen und die oft tödliche Fahrt übers Mittelmeer wagen. Italien und Malta fordern, dass andere EU-Staaten zusagen, ihnen alle Migranten an Bord der Schiffe abzunehmen. Dann erst sind sie bereit, ihre Häfen zu öffnen.

Zuletzt gab es in diesen Fällen jedes Mal mühsame Telefondiplomatie zwischen Europas Hauptstädten. Damit soll bald Schluss sein - zumindest, wenn es nach Berlin und Paris geht. Innenminister Horst Seehofer will mit seinem französischen Kollegen am heutigen Montag auf Malta zusammen mit Italien, Malta sowie Vertretern der EU-Ratspräsidentschaft Finnland und der EU-Kommission eine Grundsatzeinigung für eine beständigere Lösung finden. Hat das «europäische Telefonkonzert», wie Seehofer es nennt, bald ein Ende?

Die EU-Migrationspolitik ist seit Jahren festgefahren - warum sollte es gerade jetzt Fortschritte geben?

Mit Deutschland und Frankreich gehen zwei EU-Schwergewichte voran. Berlin und Paris dringen seit Monaten auf ein Ende der spontanen Krisenpolitik und erklärten sich regelmäßig bereit, einen großen Teil der Bootsmigranten aufzunehmen. Seehofer kündigte gerade erst an, Deutschland könne bei einer Übergangslösung ein Viertel der vor Italien Geretteten aufnehmen. Frankreich dürfte sich in ähnlicher Größenordnung beteiligen.

Auch der Regierungswechsel in Italien macht Hoffnung, weil der Ton ein anderer ist. Migrationsgegner Matteo Salvini von der rechten Lega ist nicht mehr Innenminister. Und es geht um vergleichsweise geringe Zahlen. Seehofer wies jüngst darauf hin, dass Deutschland seit Juli 2018 lediglich die Aufnahme von 565 aus Seenot geretteten Migranten zugesagt habe. Nur 225 von ihnen erreichten Deutschland bislang.

Zum Vergleich: Über das westliche Mittelmeer erreichten von Januar bis August fast 15 000 Menschen Spanien, über die östliche Mittelmeerroute kamen mehr als 38 000 Menschen. Allein im August waren es auf den griechischen Inseln doppelt so viele wie im Vorjahresmonat.

Seehofer geht bei dem Thema vorneweg. Warum eigentlich?

Der Bundesinnenminister hat eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Im deutschen Asylstreit drohte er 2018 mit nationalen Lösungen. Ein Jahr später hat der Minister Europa entdeckt und zeigt Pragmatismus: Er treibt die Übergangslösung für die Seenotrettung voran, will Griechenland beim Umgang mit Asylbewerbern helfen, plant Reisen in das südosteuropäische Land sowie in die Türkei. Die nächstliegende Erklärung: Seehofer hat zum Jahresanfang den CSU-Vorsitz abgegeben und die bayerischen Parteikollegen sitzen ihm nun nicht mehr so im Nacken. Mancher meint auch, damit habe er Rückhalt eingebüßt und könne sich keinen Koalitionskrach leisten.

Inzwischen hat Seehofer, dessen politisches Berufsleben stets um München und Berlin kreiste, wohl auch Fuß gefasst auf der EU-Bühne, wo viele Interessen und Befindlichkeiten aufeinanderprallen. Und er dürfte schlicht genervt sein von diesem «quälenden Prozess», in dem über jedes Rettungsschiff mühsam verhandelt wird - obwohl am Ende dann ja doch jeder der Geretteten an Land geht, wie Seehofer betont.

Was genau muss in Malta geklärt werden?

Entscheidend dürfte die Frage sein, welche Häfen die Schiffe künftig ansteuern. Im jüngsten Entwurf einer Einigung von Mitte September, der der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel vorliegt, ist diese Frage noch offen. Italien dringt auf ein Rotationssystem, an dem sich auch Frankreich beteiligt. Paris lehnt das ab. Ebenfalls geklärt werden müsste, wie lange eine mögliche Einigung gültig sein wird, und welche Migranten verteilt werden. Sind es nur solche, die tatsächlich Aussicht auf Asyl haben? Italien und Malta dürften darauf drängen, dass ein künftiger Verteilmechanismus alle Migranten beinhaltet.

Tatsächlich ist ein großer Teil der Ankommenden nämlich nicht schutzberechtigt. In den ersten acht Monaten 2019 kamen der EU-Grenzschutzagentur Frontex zufolge fast 6600 Menschen über das zentrale Mittelmeer nach Europa. Viele von ihnen waren aus dem Sudan oder Pakistan. Fast jeder zweite Asylanträge von Sudanesen wurde der EU-Asylagentur Easo zufolge im vergangenen Jahr abgelehnt, von Menschen aus Pakistan wurden gut acht von zehn Anträgen negativ beschieden. Ein Großteil der Menschen müsste Europa also eigentlich wieder verlassen, was in der Praxis aber schwer durchzusetzen ist.

Wie geht es jetzt weiter?

Falls es in Malta eine Einigung gibt, sollen beim Treffen aller EU-Innenminister am 8. Oktober weitere Länder davon überzeugt werden, mitzumachen. Seehofer zufolge lässt sich «mit großem Einsatz» ein Dutzend Staaten erreichen. Auf eine Einigung mit allen EU-Staaten will er nicht warten - «dann kriegen wir nie eine Lösung».

Seehofer und anderen ist wichtig, dass es keinen «Pendeldienst» zwischen der libyschen Küste und Italien gibt. Deshalb seien auch Gespräche mit Hilfsorganisationen vorgesehen. Rettungsschiffe sollten mit den zuständigen Behörden kooperieren und dürften nicht mit Schleppern zusammenarbeiten. Auch dürften sie den Schiffen der libyschen Küstenwache nicht in die Quere kommen, heißt es im Entwurf der Malta-Erklärung.

Wäre das der große Wurf der europäischen Migrationspolitik?

Nein, es wäre eine Minimallösung - und doch ein Kraftakt. Mehr als ein Jahr hat es gedauert bis eine solche Einigung überhaupt möglich wurde. Die große EU-Asylreform dagegen ist seit Jahren blockiert. Das liegt vor allem an den Dublin-Regeln, wonach meist jenes Land für einen Asylantrag zuständig ist, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betritt. Mittelmeerländer wie Griechenland und Italien fühlen sich dadurch allein gelassen. Eine Reform scheitert jedoch unter anderem an östlichen EU-Staaten wie Polen und Ungarn, die sich nicht zur Aufnahme Asylsuchender verpflichten lassen wollen.

Nun deutet sich erstmals seit langem Bewegung an. Die künftige EU-Kommissionschefin, Ursula von der Leyen, kündigte neue Vorschläge an. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zeigte sich nach einem Treffen mit Italiens Premier Giuseppe Conte vorsichtig optimistisch. Und Seehofer warb für eine Dublin-Reform. Eine gute Gelegenheit bietet sich in der zweiten Jahreshälfte 2021. Dann hat Deutschland den Vorsitz der EU-Staaten und kann Schwerpunkte setzen.

Von Michel Winde und Martina Herzog

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