Die Jamaika-Sondierung geplatzt, die Regierungsbildung erstmal gescheitert - und was macht Angela Merkel? Sie reagiert in ihrer typischen Art, wenn es besonders hart kommt: geschäftsmäßig. Umringt von den Mitgliedern der Verhandlungsgruppe von Christdemokraten (CDU) und Christsozialen (CSU) erklärt sie um kurz nach 1.00 Uhr nachts in der baden-württembergischen Landesvertretung an der Seite von CSU-Chef Horst Seehofer, wie sie nun weiter vorzugehen gedenkt. Von einem geradezu historischen Tag spricht sie, aber das ist fast schon der größte Gefühlsausbruch, den sich die Kanzlerin des stärksten Landes in Europa in dieser besonderen Nacht erlaubt.

Etwas mehr als eine Stunde vorher hatte es ein ähnliches Szenario draußen vor der Tür gegeben. Da verkündet FDP-Chef Christian Lindner eingerahmt von seiner Verhandlungsgruppe nach vier harten Verhandlungswochen das Aus für Jamaika. Es ist ein Paukenschlag für Deutschland - und ein schwerer Schlag für Merkel. «Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren», begründet Lindner den Rückzug seiner Partei.

Acht Wochen nach der Bundestagswahl steht das wichtigste Land Europas damit vor einer ungewissen Zukunft. Droht eine bisher nie dagewesene Krise? Steht Merkel vor den Scherben ihrer Kanzlerschaft? Gibt es Neuwahlen? Oder kommt doch nochmal die SPD ins Spiel und damit eine Neuauflage der Groko? Von SPD-Chef Martin Schulz bis zur Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles haben das alle ausgeschlossen. Ob die Sozialdemokraten es sich doch anders überlegen? Schon gibt es aus den Reihen der SPD erste Rückzugsforderungen an Merkel, in der Nacht zum Montag betonen viele SPDler nochmals, man bleibe in der Opposition.

«Tag mindestens des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland»

Merkel spricht in ihrer Replik auf Lindner von einem «Tag mindestens des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland». Als geschäftsführende Bundeskanzlerin werde sie nun «alles tun, dass dieses Land auch durch diese schwierigen Wochen gut geführt wird». Im Laufe des Tages werde sie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über den Stand der Dinge informieren. Dann müsse geschaut werden, wie sich die Dinge weiterentwickelten. Die Union werde «Verantwortung für dieses Land auch in schwierigen Stunden übernehmen und auch weiter sehr verantwortungsvoll handeln».

Von Frustration oder Niedergeschlagenheit ist da nicht viel zu spüren. Die Union habe in den Verhandlungen sehr viel erreicht, was die Stabilität Deutschlands gestärkt hätte, sowohl bei der wirtschaftlichen Entwicklung, beim Klimaschutz und beim Sozialen, sagt Merkel. Am Schluss bedankt sich sogar CSU-Chef Horst Seehofer bei der Kanzlerin. Seit Beginn der Flüchtlingskrise im 2015 sind sie nicht gerade beste Freunde. Doch: «Danke, Angela Merkel für diese vier Wochen», sagt Seehofer jetzt.

Es gibt Applaus für Merkel. Sie lächelt, aber zu lange soll der Beifall auch nicht dauern, das wäre unpassend: «So, reicht», sagt sie schnell. Ironie der Geschichte: Genau vor einem Jahr hatte sie nach längeren Zögern ihre erneute Kanzlerkandidatur angekündigt - die vierte.

Merkel & Co. werden von Liberalen kalt erwischt

Später rücken im Foyer von der FDP verlassene Schwarze und Grüne zusammen. Der Grünen-Linke Jürgen Trittin beugt sich etwas zu Merkel herunter: «Nachdem man sich so weit aufeinander zubewegt hat...», sagte er, und die Kanzlerin antwortet: «Ich weiß.» Die links-grüne Parteichefin Simone Peter verabschiedet sich mit einer herzlichen Umarmung von CDU-Frau Julia Klöckner, Grünen-Fraktionsmanagerin Britta Haßelmann liegt es am Herzen, Merkel eine gute Nacht zu wünschen. Viele CSU-ler halten sich da etwas abseits, in ihrem Stuhlkreis nimmt kein Grüner Platz. Und auch bei den Grünen sagen manche der scheinbaren Verbrüderung eine kurze Halbwertszeit voraus - schließlich könnte bald wieder Wahlkampf sein.

Von der FDP haben die Schwarzen nun jedenfalls erstmal genug. Zwar habe Lindner schon am Sonntagmorgen in der ersten Chefrunde davon gesprochen, dass es eigentlich keine Vertrauensgrundlage für Jamaika gebe. Doch als die FDP dann um kurz vor Mitternacht tatsächlich aussteigt, werden Merkel & Co. trotzdem kalt erwischt. Lindner und sein Vize Wolfgang Kubicki seien einfach aufgestanden und ohne ein Wort gegangen, heißt es in der Union.

Noch kurz vor dem Paukenschlag des FDP-Vorsitzenden war in der CDU-Spitze von politischen Pokerspielen der Liberalen die Rede, mit denen sie den Preis für eine Einigung hochtreiben wollten. Später in der Nacht macht sich in der Union dann aber die Einschätzung breit, der Coup sei von Lindner akribisch vorbereitet worden. Sein Statement habe er vom ausgedruckten Blatt abgelesen, von wegen spontane Reaktion. Andere sagen, spätestens seit die CSU habe erkennen lassen, dass sie einen Migrationskompromiss mit den Grünen mittragen werde, habe die FDP-Seite ihre Verhandlungstaktik geändert: auf knallhart. Ein lang geplanter Ausstieg also?

Furcht vor Neuwahlen

Lindner habe womöglich kein Interesse daran gehabt, vier Jahre lang zusammen mit den Grünen in einer Regierung zu sitzen, suchen sie in der Union eine Erklärung. Und möglicherweise beurteile der FDP-Chef die Auswirkungen einer Neuwahl für seine Partei positiver als alle anderen Seiten. Ob die FDP nach ihren 10,7 Prozent bei der jüngsten Wahl aber nochmal drauflegen könne, sei offen.

In der Unionsspitze um Merkel wird nun befürchtet, dass Deutschland italienische Verhältnisse drohen. CDU und CSU, so die Sorge, könnten bei einer Neuwahl noch weit unter ihr Ergebnis von 32,9 Prozent bei der Bundestagswahl am 24. September fallen - ohnehin schon das schlechteste seit 1949. Auch die SPD, so geht die Rechnung, könne womöglich nicht profitieren, so dass es eventuell in diesem Fall auch für eine Neuauflage der großen Koalition nicht mehr reichen könnte.

Merkel und große Teile von CDU, CSU und Grünen fürchten, dass die Kräfteverhältnisse im Bundestag nicht wirklich anders sein könnten, wenn die Bürger nach im Frühjahr erneut an die Wahlurnen gebeten würden. So sehen es auch aktuelle Umfragen. Vereint sind Union und Grüne in der Furcht, vor allem die Rechtspopulisten von der Alternative für Deutschland (AfD) könnten bei einer Neuwahl profitieren. Und das in einem Europa, dass immer noch im Schlingern ist und in dem die Tendenzen zur Renationalisierung wachsen.

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Ganz zu schweigen von den internationalen Krisen mit schwierigen Verhandlungspartnern wie US-Präsident Donald Trump, dem Russen Wladimir Putin oder dem Türken Recep Tayyip Erdogan. Sie alle könnten klammheimliche Freude daran haben, dass Merkel nun von der mächtigsten Frau der Welt zur Regierungschefin geworden ist, die es nicht schafft, eine stabile Koalition auf die Beine zu stellen.

Wie es weitergeht, darüber will Merkel am Vormittag mit ihrem Parteivorstand beraten. Einen Grund zum Rückzug von der CDU-Spitze sehen ihre Leute jedenfalls vorerst nicht. In ihrem Umfeld heißt es: «Dass sie einfach die Brocken hinwirft, würde überhaupt nicht zu ihr passen.»

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