Brüssel – Brexit, Eurozonen-Reform, Finanzplanung – an Großprojekten mangelt es in der EU derzeit nicht. Um ein besonders kniffliges Vorhaben ist es öffentlich zuletzt allerdings ziemlich ruhig geworden: die Reform des europäischen Asylsystems. Dabei ist das Problem längst nicht gelöst.

Eigentlich wollten sich die 28 Staaten bis zum EU-Gipfel Ende Juni auf eine Position einigen. Eine Annäherung ist allerdings nicht in Sicht. Zwischen Ungarn und Frankreich, Deutschland und Österreich liegen Welten. Die Zeit drängt: In einem Jahr ist Europawahl. Raufen sich die EU-Länder noch zusammen?

Den Weg zu einem potenziellen Kompromiss hätten die EU-Innenminister am Dienstag in Luxemburg ebnen können. Dort diskutierten sie den Vorschlag, den die bulgarische Ratspräsidentschaft zuletzt auf den Tisch gelegt hat. Für Bundesinnenminister Horst Seehofer hätte es der erste Auftritt im Kreise seiner Kollegen sein können, noch dazu bei einem Thema, das ihm seit Jahren besonders am Herzen liegt. Stattdessen ließ der CSU-Politiker sich vertreten. Aus terminlichen Gründen, wie es hieß.

Streitpunkt Dublin-System

Seehofer mag im Inland derzeit genug mit der Affäre um unrechtmäßige Asylbescheide zu tun haben. Wie er sich eine EU-Asylreform vorstellt, hat er bislang allerdings ohnehin nicht durchblicken lassen.

Die größte Kontroverse innerhalb der Mammut-Reform ist jene um das Dublin-System, nach dem jener Staat für einen Migranten zuständig ist, in dem dieser erstmals EU-Boden betreten hat. Länder wie Italien und Griechenland an den Außengrenzen der EU hatten in den vergangenen Jahren die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge zu bewältigen – und fühlen sich von den EU-Partnern im Stich gelassen. Auch die anderen Mittelmeerländer Zypern, Malta und Spanien pochen auf mehr Solidarität.

Solidarität? In vielen Hauptstädten – auch in Berlin – verstand man darunter zuletzt, dass jeder EU-Staat einen bestimmten Anteil an Flüchtlingen aufnehmen muss. Doch eine solche Quote ist mit Ländern wie Polen, Tschechien oder Ungarn, aber auch mit Österreich nicht zu machen. Gegen eine einmalige Verteilung von insgesamt 160 000 Flüchtlingen hatten Ungarn und die Slowakei sogar vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt – und waren gescheitert.

Gegensätzliche Strömungen

Vor allem der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban tat sich in den vergangenen Jahren als Hardliner hervor: Nur die Ungarn und von ihnen gewählte Personen dürften entscheiden, wer sich in Ungarn aufhalten dürfe. Mit dieser Haltung ist er nicht allein. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz sagte kürzlich der Tageszeitung «Die Welt» über eine mögliche Quote: «Ich sehe nicht, dass Österreich dem zustimmen kann.» Die Basis eines funktionierenden Staats sei, dass dieser selbst darüber entscheide, wer zuwandere.

Diese Strömungen versucht die scheidende EU-Ratspräsidentschaft – im zweiten Halbjahr übernimmt dann Österreich – zusammenzubringen. Das Wort Quote vermeiden die Bulgaren dabei tunlichst. Gleichzeitig soll nicht der Eindruck entstehen, ein Land könne sich komplett von der Flüchtlingsaufnahme freikaufen. Laut aktuellem Vorschlag ist eine automatische Umverteilung zwar vorgesehen – allerdings nicht nach im Vorfeld festgelegter Quote.

Drei-Stufen-Plan

Konkret sieht der Plan – wie schon vorherige – drei Stufen vor: Bei einem leicht übermäßigen Zustrom würde die EU-Kommission ein System aktivieren, das den betroffenen Ländern unter anderem technische, aber auch finanzielle Unterstützung garantiert. Gleichzeitig könnten Länder sich freiwillig dazu bereiterklären, Asylbewerber aus diesen Staaten aufzunehmen und würden dafür Geld aus EU-Töpfen bekommen. Diese Phase tritt ein, wenn ein Land 20 bis 40 Prozent über seinem «fairen Anteil» liegt, der auf Basis von Bevölkerungsgröße und Bruttoinlandsprodukt berechnet wird.

Kommen weiterhin Schutzsuchende in das übermäßig belastete Land, liegt es nun an den EU-Innenministern, die nächste Stufe zu zünden. Dies soll erforderlich sein, wenn die Belastung des Landes 40 bis 60 Prozent über seinem «fairen Anteil» liegt. Die bereits eingeleiteten Maßnahmen werden dann ausgebaut. Hinzu kommt allerdings eine Umverteilung der Asylbewerber. Ein Algorithmus berechnet, welches Land anteilsmäßig wie viele Flüchtlinge übernehmen muss.

Je ein Viertel aller zugewiesenen Schutzsuchenden kann ein Land durch Extrazahlungen an die EU sowie durch die Übernahme von Schutzsuchenden von außerhalb Europas dann noch abwenden. 25 000 bis 35 000 Euro an die EU werden dann je nicht-übernommenen Asylbewerber fällig, wie es aus EU-Kreisen heißt.

Reicht all das nicht aus, wird das Problem zur Chefsache. Liegt ein Staat mehr als zwei Jahre hintereinander 60 Prozent über seinem «fairen Anteil», müssen die Staats- und Regierungschefs über den Ausbau aller bisherigen Maßnahmen entscheiden – und weitere Lösungen finden.

Kompromiss fast aussichtslos

Kann dieser Vorschlag den selten offen zur Schau getragenen Dissens unter den EU-Staaten auflösen? Spätestens seit dem Treffen der Innenminister am Dienstag steht fest: bis Ende Juni ist ein Kompromiss fast aussichtslos. Nicht einmal in Durchhalteparolen versuchen sich die Minister. Am deutlichsten wurde der Luxemburger Jean Asselborn: «Ich würde sagen, für Ostern haben wir einen Kompromiss. Ich weiß nur nicht, in welchem Jahr.»

Der frisch ernannte italienische Innenminister Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega feiert das Stocken der Asylreform als Erfolg. «Das ist ein Sieg für uns, ich bin sehr zufrieden», sagte er laut Nachrichtenagentur Ansa. In dem aktuellen Vorschlag der Ratspräsidentschaft sieht Salvini eine weitere Benachteiligung der Mittelmeerländer. Zum Treffen in Luxemburg reiste er allerdings erst gar nicht an. Allerdings lehnt auch die Bundesregierung den aktuellen Vorschlag ab.

Hohe Erwartungen an den EU-Gipfel

Und die Bundeskanzlerin? Auch Angela Merkel dämpft die Erwartungen: «Wir arbeiten mit Hochdruck an einer Einigung in der Asylpolitik, aber ich mir nicht sicher, ob wir das bis zum Europäischen Rat Ende dieses Monats schon schaffen», sagte sie der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung». EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos äußerte sich in Luxemburg ähnlich: Falls die Juni-Frist verlängert würde, wäre das auch kein Weltuntergang.

Im Europaparlament sieht man das anders: «Die Zeit rennt nicht, sie fliegt mittlerweile», sagte die schwedische Abgeordnete Cecilia Wikström kürzlich. Das Parlament habe hohe Erwartungen an den EU-Gipfel. Zur Not müsse man eben abstimmen und die Frage nicht im Konsens entscheiden. «Scheitern kann schlicht und einfach keine Option sein.»

Von Michel Winde, dpa

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