Kranj - Die EU will in Reaktion auf die Corona-Krise und die jüngsten Alleingänge der USA ihre wirtschaftlichen und militärischen Abhängigkeiten stark verringern. Zugleich ist die Staatengemeinschaft jedoch uneins, ob sie ihre Ziele besser als Club der 27, oder erweitert um Staaten wie Serbien und Albanien erreichen kann. Bei einem Westbalkan-Gipfel in Slowenien stellte die EU sechs Balkanländern einen Beitritt weiter in Aussicht. Hoffnungen auf eine klare zeitliche Perspektive für eine Aufnahme in die EU wurden jedoch nicht erfüllt.

«Ich halte nichts von so einer Deadline, die zum Schluss uns unter Druck setzt», sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Gipfel. Sie sei allerdings dafür, dass die EU ihr Wort halte. Wenn die Bedingungen der Union erfüllt würden, müssten Länder beitreten können. Merkel betonte, es gebe «ein immenses geostrategisches Interesse, diese Länder zu Mitglieder der Europäischen Union zu machen» - auch vor dem Hintergrund von Sicherheits- und Verteidigungsfragen.

Balkan-Staaten strategisch relevant

Die sechs Balkanstaaten Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und der Kosovo arbeiten mittlerweile seit rund 20 Jahren mehr oder weniger intensiv auf einen EU-Beitritt hin. Vor allem wegen ihrer Lage inmitten der EU gelten sie als strategisch relevant. Anhaltende Defizite in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und Bekämpfung der organisierten Kriminalität haben es Erweiterungsskeptikern zuletzt aber leicht gemacht, Fortschritte im Aufnahmeprozess hinauszuzögern.

Um die Balkan-Länder trotzdem weiter zu Reformen zu ermuntern, sollen sie der Gipfelerklärung zufolge allein in diesem Jahr über einen Wirtschafts- und Investitionsplan rund 1,1 Milliarden Euro an EU-Mitteln erhalten. Die Kommission wolle dafür noch ein neues Paket in Höhe von 600 Millionen Euro vorschlagen, heißt es in dem Text. Insgesamt sollen in den kommenden sieben Jahren rund 30 Milliarden Euro für die Region mobilisiert werden - unter anderem auch über neue Garantien.

Von der Leyen: EU-Ziel ist die Erweiterung

Große Begeisterung für die Gipfelergebnisse gab es bei den Südosteuropäern jedoch nicht. Der kosovarische Premierminister Albin Kurti sagte: «Natürlich bin ich kritisch. Es hätte besser sein können.» Er hege aber immer noch Hoffnung. «Innere Konsolidierung der EU und äußere Erweiterung schließen einander nicht aus, ganz im Gegenteil.» Serbiens Präsident Aleksandar Vucic sagte: «Alles, was ich an diesen beiden Tagen gehört habe, ist, dass es eine Erweiterungsperspektive gibt, aber auch, dass nicht alle Mitgliedsstaaten denselben Appetit auf Erweiterung haben.»

Befürworter einer klaren EU-Beitrittsperspektive für diese Länder warnten bei dem Gipfel eindringlich vor den Gefahren eines weiteren Hinhaltens. «Wenn wir als Europäische Union keine ernsthafte Perspektive für diese Region bieten, dann müssen wir uns bewusst sein, dass andere Supermächte wie China, Russland oder auch die Türkei dort eine immer stärkere Rolle spielen», sagte der inzwischen  zurückgetretene österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen betonte: «Die Europäische Union ist nicht komplett ohne den Westbalkan.» Es gebe keinen Zweifel, dass das Ziel Erweiterung sei.

Kritiker: EU muss handlungsfähig bleiben

Andere stehen einer möglichen Erweiterung hingegen deutlich verhaltener gegenüber. So setzte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der Abschlusserklärung eine neue Einschränkung durch. Darin wird betont, dass die Integration neuer Mitglieder eine Weiterentwicklung der EU selbst voraussetzt. Mit dem Zusatz will sich vor allem die Regierung in Paris die Möglichkeit offenhalten, die Aufnahme neuer Mitglieder zu blockieren, wenn sich die EU in den kommenden Jahren aus französischer Sicht als nicht reformfähig erweisen sollte.

Denn schon jetzt ist die Staatengemeinschaft aus Sicht einiger Staaten oft nicht handlungsfähig genug. «Wir müssen unser gemeinsames Funktionieren tiefgreifend verändern, weil es schon jetzt als 27 sehr schwierig ist», sagte Macron nach dem Gipfel.

EU strebt mehr Unabhängigkeit von Drittstaaten an

Bereits am Vorabend hatten die EU-Staats- und Regierungschefs bis tief in die Nacht darüber beraten, wie das vor dem Hintergrund der jüngsten außenpolitischen Alleingängen der USA gelingen könnte. EU-Ratspräsident Charles Michel teilte im Anschluss mit, die Europäische Union müsse ihre Fähigkeit zu eigenständigem Handeln stärken. Dies gelte für die Eigenständigkeit als Wirtschaftsmacht, aber auch bei Fragen der Sicherheit und Verteidigung.

Nach seinen Worten hat sich die EU darauf verständigt, in Bereichen wie Energie, digitale Sicherheit, Cybersicherheit, Halbleiter, Industriepolitik und Handel eine deutlich größere Unabhängigkeit von Drittstaaten anzustreben. Schon beim nächsten offiziellen EU-Gipfel in zwei Wochen soll weiter über das Thema diskutiert werden. Konkret könnte die EU beispielsweise versuchen, ihre Abhängigkeiten bei der Produktion von Arzneimitteln und der Speicherung umfangreicher Datensätze deutlich zu verringern.

Schlechte Erfahrungen

Hintergrund der Autonomie-Bestrebungen sind vor allem die Erfahrungen der vergangenen Monate. So hatte es in der EU zuletzt Entsetzen darüber gegeben, dass die USA hinter dem Rücken der EU mit Großbritannien und Australien einen Sicherheitspakt für den Indopazifik ausgehandelt hatten. Insbesondere die Regierung in Paris ist außer sich, weil aufgrund des Aukus genannten Pakts ein 56 Milliarden Euro schwerer U-Boot-Vertrag Australiens mit Frankreich geplatzt ist.

Zudem wird Washington mit Blick auf den Abzug aus Afghanistan mangelnde Rücksicht auf Interessen der EU-Partner vorgeworfen. Hinzu kommt eine teils große Skepsis gegenüber dem konfrontativen Kurs der USA gegen China und den Versuchen, die EU ins Boot zu holen. Insbesondere gegenüber China werde die EU auch ihre eigenen Interessen verfolgen, erklärte Michel nach den Spitzengesprächen. Seinen Worten zufolge wird das Land als systemischer Rivale und Wettbewerber, aber weiter auch als Partner gesehen.

EU_Mitglieder_und_Be_71230266.jpg

Auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union durchläuft jedes Bewerberland verschiedene Stadien. Es gibt die Interessenten oder Anwärter auf die Bewerbung, es gibt anerkannte Bewerber und schließlich die Bewerber, die bereits Verhandlungen mit der EU über ihren Beitritt führen. Von den sechs Ländern des Westbalkans sind jeweils zwei auf einer Stufe. Bosnien und Herzegowina und das Kosovo sind bisher als potenzielle Bewerber gelistet. Nordmazedonien und Albanien sind bereits anerkannte Bewerber mit der Aussicht auf Verhandlungen. Serbien und Montenegro stecken schließlich schon in Beitrittsverhandlungen. Doch auch die Aufnahme von Verhandlungen zwischen der EU und Bewerbern bedeutet nicht zwangsläufig, dass es das Bewerberland in die EU schafft. Ein Beispiel ist die Türkei: Bereits 1987, als die EU noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hieß, stellte das Land einen Antrag. Seit 1999 ist das Land anerkannter Bewerber, Verhandlungen wurden 2005 aufgenommen. Aber wegen politischen Zerwürfnissen zwischen der EU und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sind die Verhandlungen so gut wie ausgesetzt und ein Beitritt in weite Ferne gerückt. Als Bewerber gilt die Türkei offiziell weiterhin.

 {
 "excerpt": "Die EU ringt um ihren Kurs beim Thema Erweiterung. Bei einem Westbalkan-Gipfel können sich die Staaten nicht auf einen Zeitplan einigen - trotz Warnungen vor dem Einfluss von China und Russland.",
 "creationDate": "2021-10-06",
 "permalink": "https://ednh.news/de/eigenstaendig-aber-nicht-im-alleingang-eu-will-unabhaengiger-werden/",
 "language": "de",
 "categories": "Erweiterung|Nachrichten",
 "media": "Infografik",
 "imageFeatured": "https://ednh.news/wp-content/uploads/2021/10/211006-99-500515.jpg",
 "status": "publish",
 "authorId": "8",
 "author": "dpa"
}