Tunis/Rom – Die Fahrt erinnert mehr an einen Ausflug übermütiger Jugendlicher als an eine Flucht aus der Heimat. Ein gutes Dutzend junger Männer hat es sich auf dem Holzboot gemütlich gemacht, singt und klatscht, während das Boot bei strahlendem Sonnenschein durch die Wellen des Mittelmeeres schneidet. «Bye, Bye Tunis», ruft einer der Jungs in die Handykamera und lacht. Im Hintergrund fährt ein zweites Schiff. In den sozialen Netzwerken tauchen in den letzten Wochen vermehrt solche Videos aus Tunesien auf. Etwas verändert sich auf der Mittelmeerroute nach Europa.

In Italien und Spanien kamen zuletzt wieder mehr Menschen an, die nicht in Libyen in die teils seeuntüchtigen Gummiboote gestiegen sind, sondern die über Tunesien, Algerien oder Marokko nach Europa gelangten. Die Zahlen sind – verglichen mit den Zehntausenden Flüchtlingen aus Libyen – zwar nicht besonders hoch, aber die Entwicklung wird in Italien mit Sorge gesehen.

Alte Routen werden reaktiviert

Mehr als 1400 Menschen waren es allein im September aus Tunesien: so viele wie in den gesamten acht Monaten zuvor nicht. «So viele haben wir seit Jahren nicht mehr gesehen», sagt der italienische Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Flavio Di Giacomo. Es sei zwar noch nicht das Niveau erreicht, wie es kurz nach dem Arabischen Frühling 2011 war, sagt auch EU-Botschafter Patrice Bergamini in Tunis, aber der Anstieg sei da. Damals kamen innerhalb weniger Monate rund 25 000 Menschen über Tunesien nach Europa.

Bisher kamen in Italien in diesem Jahr etwas mehr als 107 000 Migranten an, was im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang von rund 25 Prozent ist. Davon kommen immer noch die allermeisten Flüchtlinge über Libyen und nur ein Bruchteil über Tunesien und Algerien. Aber dass trotz internationaler Hilfe – auch aus Deutschland – jetzt wieder alte Routen reaktiviert werden und es zunehmend nicht mehr nur Flüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara sind, sondern vermehrt Tunesier, Algerier und Marokkaner, beunruhigt nicht nur die Organisation IOM – sondern auch Europa.

«Wir können nicht stumm dieser Entwicklung zuschauen», sagt der Vizepräsident des italienischen Senats, Maurizio Gasparri, von der konservativen Partei Forza Italia. «Wir haben es geschafft (...), den Zustrom Illegaler über Libyen zu stoppen, es wäre absurd, nun zuzusehen, wie sich die Dinge ständig wiederholen.»

Italien hatte im Frühjahr mit Libyen einen Deal geschlossen, um die Flüchtlinge in dem Bürgerkriegsland zu halten. Spekuliert wird seitdem, dass die Regierung in Rom auch Milizen bezahlt, um die Migranten von der Weiterreise abzuhalten. Rom dementierte dies mehrmals. Aber Europa unterstützt unter anderem die Küstenwache in Libyen mit Ausrüstung und Training.

Situation für junge Menschen schwierig

Ein Konzept, das sich auch in Tunesien aus europäischer Sicht bewährt hatte. Dort bildet zum Beispiel die deutsche Bundespolizei seit längerem Küstenwache und Grenzschützer aus und liefert Material zur Grenzüberwachung. Die Bundesregierung eröffnete zudem kürzlich in Marokko und Tunesien Beratungszentren, um die Menschen zu informieren und ihnen alternative Perspektiven zur Flucht anzubieten.

«Wenn ein europäisches Land Absprachen mit bewaffneten Milizen in Libyen macht und legale Migration verhindert, dann führt das zu einem gewissen Druck in anderen Regionen», versucht Ramadan Ben Omar al-Awad vom Tunesischen Forum für ökonomische und soziale Rechte (FTDES) die neue Entwicklung zu erklären. Die Organisation stellte vor einigen Tagen eine Untersuchung vor, nach der aktuell rund 40 Prozent der jungen Mädchen Tunesien verlassen möchten. «Die Situation für junge Menschen in Tunesien und Algerien ist heute wieder schwierig.»

Denn trotz demokratischer Fortschritte vor allem in Tunesien ist die wirtschaftliche Situation in der Region weiterhin schlecht. Etwa jeder dritte Hochschulabsolvent findet keine Arbeit. Auch in Algerien und Marokko kam es zuletzt immer wieder zu Protesten gegen die Regierungen. Die nordafrikanischen Länder des Maghreb entwickeln sich nach Ansicht der UN-Migrationsagentur IOM zudem von Durchgangsländern für Flüchtlinge südlich der Sahara immer mehr zu Ankunftsländern, in denen sie auch länger bleiben und häufig illegal arbeiten. Das führte zuletzt immer wieder zu sozialen Spannungen.

Verhaftungswellen gegen Flüchtlinge

In Tunesien gab es Anfang des Jahres eine große Diskussion über Rassismus gegen Subsahara-Flüchtlinge, nachdem drei junge Kongolesen auf offener Straße mit einem Messer angegriffen und teils schwer verletzt worden waren. Im Nachbarland Algerien hatte der mittlerweile als Premierminister amtierende Ahmed Ouyahia vor den zurückliegenden Parlamentswahlen heftig gegen Flüchtlinge gewettert: Illegale Einwanderer brächten Kriminalität, Drogen und andere Plagen ins Land. Und im September hatte das Transportministerium dazu aufgerufen, im öffentlichen Nahverkehr keine Migranten mehr mitzunehmen.

Die Behörden gehen seit einiger Zeit verstärkt gegen Flüchtlinge vor. Vor allem in Algerien berichteten Flüchtlinge zuletzt von größeren Verhaftungswellen. In allen drei Maghreb-Ländern waren zuletzt illegale Flüchtlingslager aufgelöst worden. Nach Ansicht der EU-Grenzschutzagentur Frontex hat auch das zu einem Anstieg der Flüchtlingszahlen auf der sogenannten Westroute Richtung Spanien geführt. In diesem Jahr kamen dort bereits knapp 14 000 Menschen an und damit mehr als im gesamten Vorjahr.

Kritik an EU-Migrationspolitik

Absolut gesehen sind die Zahlen jedoch immer noch relativ gering. Trotz der aktuellen Entwicklung hält es Mattia Toaldo vom European Council on Foreign Relations, einer europäischen Denkfabrik, für unwahrscheinlich, dass sich Tunesien zum neuen Libyen für den Menschenschmuggel entwickelt. «Die Infrastruktur und die Voraussetzungen für den Schmuggel sind in Tunesien wesentlich schlechter als in Libyen.»

Mehrere tunesische Organisationen, darunter Gewerkschaften und die tunesische Liga für die Verteidigung der Menschenrechte, kritisierten in einer gemeinsamen Erklärung die Migrationspolitik der EU. «Die wirtschaftlichen Verabredungen zwischen Tunesien und der EU zum Beispiel fallen häufig zum Vorteil von Europa aus», sagt Ben Omar vom FTDES. Auch das führe dazu, dass sich jetzt immer mehr junge Menschen auf den Weg Richtung Europa machten.

Von Simon Kremer und Annette Reuther

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