Die Flüchtlingskrise scheint weit weg: keine Bilder mehr von Menschenschlangen an der bayerischen Grenze, von überfüllten Asylunterkünften, Verzweifelten an geschlossenen Grenzübergängen, keine Sondersendungen mehr über chaotische Zustände in Deutschland und Europa. Ist die Krise damit vorbei? Keineswegs. Weltweit werden jede Minute 20 Menschen in die Flucht getrieben. Der Weltflüchtlingsbericht zeichnet ein düsteres Bild.

65,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene weltweit, wo sind die Menschen alle?

Die Türkei beherbergte 2016 weltweit die meisten Flüchtlinge, 2,9 Millionen. Der Libanon hat gemessen an der eigenen Bevölkerung den meisten Menschen Zuflucht geboten. In dem Land am Mittelmeer, halb so groß wie Sachen-Anhalt, war jeder sechste Bewohner Flüchtling. Pakistan beherbergte 1,4 Millionen Geflüchtete, Iran und Uganda je fast eine Million, Äthiopien fast 800 000, Jordanien fast 700 000. 84 Prozent der Vertriebenen sind in Entwicklungsländern. «Dies ist keine Krise der reichen Welt, sondern eine Krise der Entwicklungsländer», betont der Chef des UN-Flüchtlingswerks (UNHCR), Filippo Grandi. Für Deutschland nennt das UNHCR 669 500 Flüchtlinge, Platz 8.

Wo ist die Not am größten?

Die meisten Flüchtlinge stammen nach wie vor aus Syrien, 5,5 Millionen. Im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat gewinnt die Regierung zwar Oberhand, aber mit den untereinander rivalisierenden Oppositionskämpfern ist keine Annäherung in Sicht. Die zweitgrößte Gruppe kommt aus Afghanistan (2,5 Millionen). Am rasantesten verschärfte sich die Krise aber in Südsudan. 2016 waren schon zwölf Prozent der zwölf Millionen Einwohner des jungen Landes vor einem ethnisch verfeindeten Bürgerkriegsparteien auf der Flucht, inzwischen sind es schon 17 Prozent. Die selbst bitterarmen Nachbarländer können den Ansturm kaum bewältigen.

Gegen Flüchtlinge wird aus der rechten Ecke immer mit Bildern gewaltbereiter junger Männer Stimmung gemacht. Stimmt das überhaupt?

Nein. Die Hälfte der Flüchtlinge, 51 Prozent, sind unter 18. Gerade Familien nehmen größte Gefahren in Kauf, um ihre Kleinen vor Krieg, Gefechten, Gewalt und Verfolgung zu retten. Zudem sind 75 000 Kinder sogar ohne Eltern unterwegs, teils, weil sie auf der Flucht getrennt wurden oder weil die Eltern, wenn sie Menschenschmuggler bezahlten, nur Geld für die Kinder hatten.

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Schutzsuchende in Deutschland

Kinder würden besonders leicht Opfer von Entführungen, sexuellem Missbrauch oder sogar Organhandel, so die SOS-Kinderdörfer. «Viele von ihnen leiden unter enormem Stress: Sie haben Kriege oder Hunger erlebt, schlimme Erfahrungen auf der Flucht gemacht und müssen nun ohne Familie in einer neuen Kultur klarkommen», sagt Orso Muneghina, Leiter des Nothilfe-Programms der SOS-Kinderdörfer in Italien.

Wie hat die EU nach dem Andrang 2015 reagiert?

«Wir sollten niemals erlauben, dass sich das Chaos von 2015 in Europa wiederholt», sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk. Grenzschließungen und Zäune auf der Balkanroute haben die Zahl der Asylsuchenden ebenso nach unten gedrückt wie der Flüchtlingspakt mit der Türkei. Außerdem wurde die EU-Grenzschutzagentur Frontex ausgebaut, damit sie Länder an den Außengrenzen der Europäischen Union künftig besser vor ungewollter Migration schützen helfen kann.

Hilft Europa nicht auch den Herkunftsländern?

Im eigenen Interesse, ja. Die sogenannten Migrationspartnerschaften funktionieren nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche. Wer mit Europa in solchen «Partnerschaften» zusammenarbeitet, soll mehr Entwicklungsgelder bekommen. Als Musterschüler gilt Niger. Das Transitland in Westafrika habe den Grenzschutz und den Kampf gegen Schleuser verstärkt. Dafür bekommt es Unterstützung für die Landwirtschaft, bei beruflicher Ausbildung und Jugendbeschäftigung. Weniger Fortschritte gibt es in Nigeria, Mali, Senegal und Äthiopien.

Sind sich die EU-Staaten einig beim Umgang mit Flüchtlingen?

Keinesfalls. Wegen ihrer Weigerung, Italien und Griechenland Flüchtlinge abzunehmen, geht die EU-Kommission nun gegen Ungarn, Polen und Tschechien vor. Die Slowakei und Ungarn klagen ihrerseits vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den Beschluss zur Umverteilung von bis zu 120 000 Flüchtlingen. Und der Versuch, eine dauerhafte Lösung zur besseren Verteilung von Migranten zu finden, kommt nicht voran. Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl fürchten, dass sich die EU-Staaten nur auf die Absenkung von Schutzstandards einigen.

Und wie ist die Lage in Deutschland?

Die EU-weiten Abschottungsbemühungen haben auch hier Wirkung gezeigt. Nach dem «Rekordjahr» 2015 mit 890 000 Asylsuchenden gingen die Zahlen deutlich runter. 280 000 Schutzsuchende wurden 2016 registriert. In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres waren es rund 77 000. Aber das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist noch immer dabei, einen Berg alter Asylanträge abzuarbeiten.

Wo liegt das größte Problem?

Bei der Integration. Viele Flüchtlinge konnten zwar Notunterkünfte verlassen und wurden in Gemeinschaftsunterkünften oder Wohnungen untergebracht. Die Hilfsorganisation Pro Asyl kritisiert jedoch, dass es inzwischen wieder einen Trend hin zu größeren Unterkünften gebe, in denen die Menschen länger bleiben müssten. Auch dauert es meist, bis Flüchtlinge in Deutschland Arbeit finden. Haupthinderungsgrund sind mangelnde Deutschkenntnisse und fehlende Berufsausbildungen. Im Mai galten etwa 484 000 Flüchtlinge als «arbeitssuchend».

Wie hat sich die Aufnahmepolitik Deutschlands geändert?

Die Bundesregierung hat das Asylrecht verschärft und schiebt Menschen leichter ab. Pro Asyl beklagt, die Willkommenskultur in Deutschland habe sich zu einer Abschiebekultur gewandelt. Syrer erhalten inzwischen in der Regel nur noch einen eingeschränkten Schutzstatus. Auch der Familiennachzug wurde begrenzt. Menschenrechtsorganisationen und Oppositionspolitiker kritisieren die Kursänderungen scharf.

Was will der UNHCR-Chef von den reichen Ländern?

Einerseits Geld. Die meisten Spendenaufrufe sind nicht einmal zu einem Viertel gedeckt. Manchmal müssen Essensrationen in Flüchtlingslagern gekürzt werden. «Dann werden die Lager Horte der Verzweiflung», berichtet Grandi. Mehr Leute versuchten dann, sich auf eigene Faust nach Europa durchzuschlagen. Andererseits dringt Grandi auf mehr Programme, die die Lage in den Krisenregionen verbessern, damit die Menschen dort eine Chance auf einen Neuanfang bekommen.

Übrigens: die USA sind nach wie vor mit Abstand der größte Geldgeber des UNHCR. 51 Prozent der 189 000 Menschen, die 2016 eine neue Heimat fanden, wurden in den USA aufgenommen. Obwohl Präsident Donald Trump die angepeilte Zahl für die permanente Aufnahme von Flüchtlingen auf 50 000 halbiert hat, wäre das immer noch das größte Ansiedlungsprogramm der Welt.

Von Christiane Oelrich

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