Brüssel - Verbraucher in Europa sollen künftig einfacher ihre Rechte durchsetzen können. Die EU-Kommission präsentierte dazu am Mittwoch in Brüssel mehrere Gesetzesvorschläge. Herzstück ist die Einführung effektiver Sammelklagen vieler Geschädigter gegen große Firmen. Unternehmen, die ihre Kunden betrügen, müssen außerdem höhere Strafen fürchten. Zudem sollen Online-Käufe transparenter werden:

Warum sind Sammelklagen überhaupt nötig?

Dieselgate, Abgasmanipulation, Volkswagenskandal: Bei Verbrauchern weckt das unschöne Erinnerungen. Seit im Herbst 2015 die millionenfache Abgasmanipulation an VW-Dieselmotoren bekannt wurde, pochen Verbraucher auf Entschädigung - meist erfolglos. Die Klage eines Einzelnen gegen den Riesenkonzern hat wenig Aussicht auf Erfolg. Deshalb rufen Verbraucherschützer schon seit Jahrzehnten nach der Möglichkeit einer Kollektivklage. Die EU-Kommission forderte die Mitgliedstaaten bereits 2013 auf, gemeinsame Klagen auf Unterlassung und Schadenersatz zu erlauben. Passiert ist seitdem allerdings wenig.

Was plant die Brüsseler Behörde? Justizkommissarin Vera Jourova will mit einem Gesetzesvorschlag für Fälle wie den Abgasskandal nachhelfen. Demnach sollen «qualifizierte Institutionen» wie Verbraucherverbände künftig stellvertretend für Geschädigte klagen können. Die Kommission unterscheidet allerdings mehrere Szenarien: Im einfachsten ist die Zahl der Betroffenen bekannt, und sie haben vergleichbaren Schaden erlitten. Hier können Verbraucherverbände auf Schadenersatz für die Geschädigten klagen. Ein Mandat brauchen sie zunächst nicht. In einem zweiten Szenario ist der Streitwert so gering, dass die Zahlung von Schadenersatz an die Verbraucher unverhältnismäßig wäre. Wird ein Unternehmen dazu verurteilt, entstandenen Schaden auszugleichen, soll das Geld an gemeinnützige Stellen fließen. Im dritten Szenario ist eine Sammelklage nur bedingt möglich. Es geht um komplexe Fälle, bei denen die Zahl der Geschädigten unklar und der individuelle Schaden verschieden ist. Die Abgasmanipulation von Volkswagen dürfte darunter fallen. Nationale Gerichte könnten dann zwar entscheiden, dass EU-Recht verletzt wurde. Geschädigte müssten ihren Schadenersatz aber selbst einklagen und könnten sich dabei auf das Gerichtsurteil berufen. Auch außergerichtliche Einigungen sollen Jourova zufolge möglich sein.

Welche Reaktion gibt es auf die Überlegungen aus Brüssel?

Verbraucherschützer sprechen von einem Schritt in die richtige Richtung. «Viel zu oft müssen Verbraucher die Rechnung für unfaire Geschäftspraktiken von Unternehmen selbst zahlen», sagte die Geschäftsführerin des europäischen Verbraucherschutzverbands BEUC, Monique Goyens. Kritisch sieht sie jedoch, dass Verbraucher beim komplexen Szenario selbst auf Schadenersatz klagen müssen. Der EU-Vorschlag sei nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer vollwertigen Sammelklage. Der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold sprach von einem «guten Tag für Europa». Das Machtgefälle zwischen Großunternehmen und Verbrauchern werde kleiner. Industrievertreter hingegen sind alarmiert. Der deutsche Industrieverband BDI sieht gar den Rechtsfrieden in Europa gefährdet. «Sammelklagen schaden unserem fairen Rechtssystem massiv», hieß es. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer VDMA sprach von einem «Irrweg», der Europäische Unternehmerverband Business Europe warnte vor US-Verhältnissen.

Droht in der EU wirklich eine Klageindustrie nach US-Vorbild? Nicht wirklich, sagte Jourova am Mittwoch. In den USA sind Sammelklagen ein lukratives Geschäftsmodell für Kanzleien. Viele haben sich dort auf Massenverfahren gegen Konzerne und Institutionen spezialisiert. Jourova betonte, in der EU sollten nur bestimmte Organisationen wie Verbraucherverbände Klage führen dürfen. Zudem sollten Verbraucher nur für entstandenen Schaden entschädigt werden. Weiteren Schadenersatz sollten sie von den Firmen nicht erhalten.

Wie ist die rechtliche Lage in Deutschland und anderen EU-Ländern? In einigen Ländern wie Frankreich, Portugal und Italien gibt es die Möglichkeit einer Sammelklage schon. In Deutschland sind die Vorbereitungen für eine «Musterfeststellungsklage» fortgeschritten. Ein Gesetzentwurf steckt in der Ressortabstimmung, das Kabinett soll ihn möglichst im April beschließen. Die Zeit drängt: Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass das neue Instrument zum 1. November in Kraft sein soll - damit angesichts drohender Verjährungen auch Betroffene des VW-Abgasskandals von der Regelung Gebrauch machen können. Die EU-Vorschläge wären darauf nicht mehr anwendbar. Wie genau sehen die Pläne in Deutschland aus? Konkret sollen Musterfeststellungsklagen möglich sein, wenn mindestens zehn Verbraucher ihre Betroffenheit glaubhaft machen und sich binnen zwei Monaten 50 in einem Register anmelden. Klagebefugt sollen nur «qualifizierte Einrichtungen» wie Verbraucherverbände sein. Sie könnten in Musterprozessen strittige Fragen grundsätzlich klären, danach müsste jeder Verbraucher seine konkreten Ansprüche in einem individuellen Prozess geltend machen. Hier ähnelt der deutsche Ansatz dem dritten, komplexen Szenario im Kommissions-Vorschlag.

Welche weiteren Ideen hat die EU-Kommission? Angesichts des VW-Skandals sollen nationale Verbraucherschutzbehörden bei Gesetzesverstößen in mehreren EU-Ländern höhere Strafen verhängen können. Wegen der geringen Strafen hätten große Unternehmen derzeit keine Angst, zu betrügen, sagte Jourova und nannte das Beispiel VW. Nur zwei nationale Verbraucherschutzbehörden in der EU hätten Strafen gegen den Autobauer verhängt, die zwischen einer halben und fünf Millionen Euro gelegen hätten. «Das ist nichts im Vergleich zu dem, was Volkswagen in den USA gezahlt hat.» Dem Kommissionsvorschlag zufolge sollen nationale Verbraucherbehörden in der EU künftig Strafen von vier Prozent des Jahresumsatzes des Unternehmens im jeweiligen Land verhängen können. Die einzelnen EU-Länder könnten noch höhere Auflagen verhängen. Darüber hinaus will die Brüsseler Behörde Online-Käufe transparenter machen. Neukunden kostenloser Online-Services wie soziale Netzwerke oder Mail-Dienste sollen ferner das Recht haben, zwei Wochen nach Vertragsabschluss davon zurückzutreten. Händler sollen hingegen nicht mehr verpflichtet sein, getragene Kleidung zurückzunehmen. Wenn Kleidung nicht nur anprobiert wurde, müssen die Anbieter das Geld nicht erstatten.

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