Istanbul – Auf ein Konzept des Politikberaters Gerald Knaus geht das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei zurück, das am 18. März 2016 in Brüssel vereinbart wurde. Zwei Jahre später ist Knaus ernüchtert: Zwar gingen die Flüchtlingszahlen in der Ägäis stark zurück, inzwischen steigen sie aber wieder. Die Lebensumstände in den EU-Flüchtlingslagern, den sogenannten Hotspots, nennt der Experte «unzumutbar». Vor allem aber warnt Knaus eindringlich davor, dass das Abkommen noch in diesem Jahr scheitern könnte – mit potenziell schwerwiegenden Folgen auch für Deutschland. Die Verantwortung dafür sieht er nicht vorrangig bei der Türkei.

Herr Knaus, vor zwei Jahren wurde das Flüchtlingsabkommen von der EU und der Türkei geschlossen. Funktioniert es?

Begrenzt. Es hat die Zahl der Menschen, die sich in der Türkei in Boote setzen und auf die griechischen Inseln fahren, in kürzester Zeit dramatisch reduziert: Von 2000 am Tag noch im Februar 2016 auf 9000 im gesamten ersten Halbjahr 2017. Die Zahl der Menschen, die in der Ägäis ertrunken sind, ist dramatisch gefallen. Überdies hat die EU relativ schnell mit viel Geld die Lebensumstände von einer Million syrischer Flüchtlinge in der Türkei verbessert. Was überhaupt nicht geklappt hat – und das gefährdet heute das gesamte Abkommen – ist fast alles, was die Umsetzung auf den ägäischen Inseln und in Griechenland betrifft.

Was meinen Sie genau?

Die Bedingungen, unter denen Asylantragsteller Monate in europäischen Hotspots auf den Inseln verbringen, sind weiterhin unzumutbar. Der Hauptgrund: Es gelingt nicht, in qualitätsvollen Asylverfahren schnell zu entscheiden, wer in Griechenland bleiben soll. Das sollte und könnte innerhalb weniger Wochen passieren. Es ist außerdem nicht gelungen, Kontrollmechanismen aufzubauen, die der griechische Asylbehörde erlauben, mehr Menschen in die Türkei zurückzuschicken und dabei sicher zu sein, das diese dort so behandelt werden, als wenn sie etwa nach Portugal geschickt würden. Seit März 2016 wurden im Schnitt monatlich 70 Leute in die Türkei zurückgeschickt – viel weniger als in den Monaten vor dem Abkommen.

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Je nach Route verlangen Schlepper sehr unterschiedliche Preise für das Einschleusen von Flüchtlingen nach Europa

Woran liegt das?

Organisation. Man kann derzeit auf allen Ägäis-Inseln vielleicht 6000 Flüchtlinge für einige Wochen menschenwürdig unterbringen. Wenn 3000 im Monat kommen, dann bedeutet das, dass innerhalb von zwei Monaten entschieden werden müsste, wer in der EU bleiben soll und wer nicht. Tatsächlich schaffen es die griechischen Berufungskommissionen auf den Inseln gerade einmal, 100 Fälle zu entscheiden, im Monat!

Was ist die Konsequenz daraus?

Es wird fast niemand zurückgeschickt, außer einer kleinen Gruppe Menschen, die aufgrund der schlechten Bedingungen auf den Inseln irgendwann aufgeben. Um genau zu sein: Von März 2016 bis Ende 2017 kamen 56 000 Menschen auf den Inseln an. 1500 wurden in die Türkei zurückgeschickt. 12 000 waren Ende 2017 in den Hotspots. Die allermeisten wurden also aufs Festland gebracht. Dort warten sie Jahre auf eine Asylentscheidung, oder sie machen sich mit Schmugglern auf den Weg über den Balkan. Letztlich lehnen die Griechen dann eine Mehrheit der Asylanträge ab, doch am Ende bleibt fast jeder, der ankommt, unabhängig davon in der EU. Das ist eine absurde Situation.

Wie ließe sich das lösen?

Wir schlagen vor, dass man auf den griechischen Inseln in der Ägäis ein europäisches Pilotprojekt startet, inspiriert vom niederländischen Asylsystem. Beim niederländischen System gelingt es, innerhalb von wenigen Wochen eine erstinstanzliche und eine Berufungsentscheidung für Asylantragsteller zu haben. Wir brauchen schnelle, faire Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, um Leute schnell zurückzuschicken – oder um schnell Schutz zu gewähren.

Dann bliebe aber doch das Problem, wohin die Menschen zurückgeschickt werden könnten?

Das schnellere Asylsystem muss verbunden sein mit Abkommen, entweder – wie im Fall der Türkei – mit einem Nachbarland oder im zentralen Mittelmeer mit afrikanischen Herkunftsländern. Man müsste diese Länder überzeugen, jene Menschen ab einem Stichtag schnell zurückzunehmen, die keinen Schutz in der EU bekommen – wie im Abkommen mit der Türkei. Das ist die beste Möglichkeit, Migration zu reduzieren und das Recht auf Asyl aufrechtzuerhalten. Wenn jene, die keinen Schutz erhalten, innerhalb weniger Wochen zurückgeschickt würden, wäre das auch ein Signal, sich nicht auf den oft tödlichen Weg zu machen. Doch daran arbeitet derzeit niemand in der EU.

Solange das nicht passiert...

Solange das nicht gelingt, bleibt Europa ein Magnet. Wenn jeder, der überlebt und hierher kommt, bleiben kann, dann werden es viele versuchen. So wie Hunderttausende Westafrikaner, die Italien in den letzten Jahren per Boot erreicht haben. Derweil träumen die einen von völlig utopischen «Abschiebungsoffensiven». Und sehen es als Erfolg an, eine Handvoll junger Afghanen, die manchmal schon gut integriert sind, nach vielen Jahren trotzdem abzuschieben. Andere fordern, grundsätzlich niemanden in die Türkei zurückzuschicken, wo es vielen Syrern besser geht als in manchen EU-Ländern. Hier werden ideologische Kämpfe auf Kosten einer vernünftigen Politik ausgetragen, die doch darauf zielen müsste, Menschlichkeit und Kontrolle zu verbinden. Und das bedeutet auch, das EU-Türkei-Abkommen seriös umzusetzen, statt zu warten, bis es zusammenbricht.

Sehen Sie schon Anzeichen für einen möglichen Zusammenbruch?

Ja. In der ersten Jahreshälfte 2017 kamen ungefähr 9000 Menschen über die Ägäis nach Griechenland, in der zweiten Hälfte waren es schon wieder 20 000. Die Tendenz ist klar.

Sie haben erwähnt, dass sich weiterhin Menschen vom griechischen Festland über den Balkan auf den Weg nach Mitteleuropa machen. Aber die Balkanroute ist doch geschlossen, oder?

Jeder Innenminister in Europa weiß, dass die Schließung der Balkanroute nicht wirklich funktioniert hat. In den letzten zwei Jahren sind etwa genau so viele Menschen über die Balkanroute nach Deutschland weitergereist, wie in diesen Jahren aus der Türkei in Griechenland angekommen sind. Von einer Schließung der Balkanroute kann man daher nicht sprechen. Wenn die Zahl derjenigen, die in Griechenland ankommen, wieder stark steigen würde, dann wäre die mazedonische oder serbische Grenzpolizei heute nicht in der Lage, diese Leute an der Weiterreise zu hindern.

Die Türkei hat wiederholt mit einer Aufkündigung des Abkommens gedroht. Halten Sie das für eine ernstzunehmende Drohung?

Es ist sehr unwahrscheinlich. Der Grund, warum die Türkei das Abkommen 2016 angeboten und seither nicht aufkündigt hat, ist ihr eigenes Interesse daran. Wenn die Türkei im Monat 70 Leute aus Griechenland zurücknimmt, ja selbst wenn es 1000 würden, ist das für die Türkei eine vernachlässigbare Zahl. Dafür bekommt sie von der EU Milliardenhilfe für die Bewältigung der Flüchtlingskrise im Land. Das rechnet sich für die Türkei politisch und humanitär. Aber eben auch für die EU. Eine realistische Flüchtlingspolitik muss auch auf Interessen aufbauen.

Sie haben die Lebensumstände von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln bereits im vergangenen Jahr als «unmenschlich» bezeichnet. Kümmert sich die EU darum?

Da man Leute nicht in die Türkei zurückschickt, mögen manche sich denken, Flüchtlinge durch schlechte Behandlung auf den griechischen Inseln abzuschrecken. Das ist natürlich nicht im Einklang mit griechischem oder EU-Recht. Es ist beschämend, dass wir im zweiten Winter seit dem Abkommen Leute sehen, die außerhalb von Aufnahmezentren in Zelten schlafen. Dass wir immer noch nicht in der Lage sind, in diesen EU-Hotspots für die Sicherheit von Frauen zu sorgen. Dass es zu wenig psychologische Betreuung gibt. Dabei mangelt es nicht an Geld, denn es gibt Hunderte Millionen Euro, die man verwenden könnte. Es ist schwer, nicht den Eindruck zu haben, dass die schlechten Bedingungen eine zynische Strategie sind. Wie in Griechenland vor 2015 schon.

Schrecken diese Umstände Flüchtlinge denn überhaupt ab?

Nein, eine solche Strategie funktioniert nicht, sobald allen klar wird, dass Menschen zwar drei Monate schlechte Bedingungen erleiden, dann aber trotz allem weiterkommen, weil sie irgendwann notwendigerweise aufs Festland gebracht werden müssen. Von dort aus können sie dann mit Schmugglern weiterreisen.

Was wären die Konsequenzen, sollte das Abkommen scheitern?

Zunächst wäre es ein Riesenproblem für Griechenland. Die humanitäre Situation auf den Inseln ist heute schon inakzeptabel. Wenn noch mehr Menschen kommen, müsste man Leute noch schneller auf das Festland bringen. Dann würde auch der Druck auf die Balkanroute dramatisch steigen. Schwache Staaten wie Mazedonien oder Serbien würden wieder unter Druck geraten. Es würden mehr Menschen ertrinken und mehr in Mitteleuropa ankommen. Das heißt: Für ganz Europa, für Griechenland wie Deutschland, bleibt es wichtig, dass das Abkommen so umgesetzt wird, dass es auch funktioniert.

Warum geschieht trotzdem nichts?

Ich habe das Gefühl, dass das Interesse in vielen europäischen Hauptstädten in dem Moment abnimmt, in dem die Zahl der ankommenden Menschen sinkt und dramatische Bilder aus den Schlagzeilen verschwinden. Das ist kurzsichtig und unverantwortlich.

Zur Person: Der Österreicher Gerald Knaus (47) gilt als Vordenker des Flüchtlingsabkommens der Türkei mit der EU. Kurz nach dem Tod des syrischen Flüchtlingsjungen Aylan, der weltweit für Entsetzen sorgte, entwarf der Politikberater auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise ein Konzeptpapier mit dem Titel «Warum niemand in der Ägäis ertrinken muss». Die Ideen in diesem Konzept vom 17. September 2015 bildeten die Grundlage für den Flüchtlingspakt vom 18. März 2016. Knaus ist Vorsitzender der von ihm 1999 gegründeten Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) in Berlin.

Interview: Can Merey, dpa

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