London/Brüssel - Zwei Monate vor dem Brexit wächst die Furcht vor neuer Gewalt in Nordirland und vor großen Einbußen für viele Unternehmen. Die britische Premierministerin Theresa May will am Dienstag die Abgeordneten in London über einen «Plan B» zum EU-Austritt abstimmen lassen. Ein zwischen ihr und Brüssel ausgehandeltes Brexit-Abkommen war zuvor im Parlament durchgefallen.

Eine überparteiliche Abgeordnetengruppe ist entschlossen, einen Brexit ohne Abkommen mit Änderungsanträgen am Dienstag zu blockieren. Die besten Chancen werden dem Antrag der Labour-Abgeordneten Yvette Cooper eingeräumt, die mit einem ausgefuchsten Plan der Regierung die Hände binden will. Sollte ihr Antrag angenommen werden, würde am 5. Februar ein Gesetz durch das Parlament gepeitscht, das den Brexit-Tag vom 29. März auf den 31. Dezember 2019 verschiebt. Das würde allen Seiten mehr Zeit für eine Einigung geben.

Kriegsrecht und nächtliche Ausgangssperren möglich

Nach einem Bericht der «Sunday Times» erwägt die Regierung die Verhängung von Kriegsrecht und nächtlichen Ausgangssperren bei Störungen im Falle eines «No Deal». Gesundheitsminister Matt Hancock bestätigte dies am Sonntag in einem BBC-Interview nicht, wies den Bericht aber auch nicht als falsch zurück. «Das steht nicht im Fokus unserer Aufmerksamkeit», betonte der Minister.

EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans mahnte London eindringlich, den Frieden in Nordirland zu wahren. Eine offene Grenze zwischen Irland und Nordirland sei entscheidend, um neue Gewalt in der früheren Bürgerkriegsregion abzuwenden, sagte Timmermans der Deutschen Presse-Agentur und dem britischen «Guardian» in Brüssel.

«Wir haben eine kollektive europäische moralische Verantwortung und politische Verantwortung, alles in unserer Macht zu tun, um das Risiko zu vermeiden, dass das wieder passiert», sagte Timmermans. «Ich werde nie verstehen, wie es möglich ist, dass wir das so klar sehen, dass einige Leute in Westminster aber so gleichgültig darüber hinweggehen.» Die von der EU im Brexit-Abkommen geforderte Garantie für eine offene Grenze, der Backstop, sei eine Frage der Solidarität.

Nach wie vor Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten

Timmermans sagte, nur wenn Großbritannien sich einige, sei ein Brexit ohne Vertrag zu vermeiden. «Versammelt euch um eine Idee und wir werden zuhören.» Eine Verlängerung der zweijährigen Austrittsfrist über den vorgesehenen Austrittstag 29. März hinaus sei nach Artikel 50 der EU-Verträge möglich. «Ich habe noch keinen Mitgliedsstaat mit bösem Willen gegenüber Großbritannien gesehen, ganz im Gegenteil.»

Auch Hunderte Demonstranten warnten am Samstag an der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland vor den Gefahren für die 1998 befriedete Bürgerkriegsregion. Viele Teilnehmer waren als bewaffnete Soldaten und Zollbeamte verkleidet. «Wir sind doch diejenigen, die unter den Fehlern leiden, die im Parlament in London gemacht werden», sagte ein Demonstrant der Nachrichtenagentur PA. «Wir werden die (feste) Grenze nicht akzeptieren.» Derzeit ist die Grenze fast unsichtbar und kann problemlos passiert werden.

Im Bürgerkrieg kämpften pro-irische Katholiken unter Führung der Untergrundorganisation IRA gegen protestantische, pro-britische Loyalisten. Im Kern ging es darum, ob der zu Großbritannien gehörende Nordteil Irlands mit der Republik im Süden vereinigt werden soll. Das Karfreitagsabkommen beendete am 10. April 1998 die langen Auseinandersetzungen. Zwischen 1969 und 2001 starben mehr als 3600 Menschen. Hunderttausende gelten als traumatisiert. Die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten sind heute noch stark zu spüren.

Unternehmen haben Notfallpläne für ungeregelten Brexit

Auch die Wirtschaft wird zunehmend nervöser. Tausende Unternehmen haben nach Angaben der britischen Handelskammer bereits Notfallpläne für einen ungeregelten Brexit erstellt. Zu den Maßnahmen gehören vor allem Verlagerungen von Aktivitäten ins Ausland und das Einlagern von Waren, zitierte die Zeitung «The Guardian» am Sonntag die Handelskammer BCC, die 75 000 Mitglieder hat.

Erst vor wenigen Tagen drohte der Luftfahrt- und Rüstungskonzern Airbus bei einem «No Deal» mit der Schließung von Fabriken in Großbritannien. Dort hat das Unternehmen fast seinen gesamten Tragflächen-Bau gebündelt. «Wenn es einen Brexit ohne Abkommen gibt, müssen wir bei Airbus möglicherweise sehr schädliche Entscheidungen für Großbritannien treffen», sagte Airbus-Chef Tom Enders.

Chaotische Verhältnisse, Megastaus und Zollkontrollen

Im Falle eines EU-Austritts ohne Abkommen wird in Großbritannien in fast allen Lebensbereichen mit chaotischen Verhältnissen gerechnet; besonders hart dürfte es aber viele Firmen treffen. Experten rechnen unter anderem mit Megastaus wegen künftiger Zollkontrollen, Mangel an Zuliefererteilen und weiteren Produkten. Gekühlte Lagerhallen für empfindliche Waren sind bereits komplett ausgebucht.

Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA schloss unterdessen in London ihre Türen. Damit gehen Großbritannien etwa 900 Arbeitsplätze verloren. Die EMA verlagert ihren Sitz nach Amsterdam. Sie ist die EU-Aufsichtsbehörde für Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln. Der Umzug war wegen des Brexits nötig. Am Freitagabend wurden die 28 EU-Fahnen eingeholt, wie die Behörde im Kurznachrichtendienst Twitter mitteilte.

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