Es gab am Wahlabend in Berlin ein sehr symbolträchtiges Bild, das man in der Hektik aber schnell übersehen konnte: Alle möglichen Politiker eilten an die Mikrofone, um das Ergebnis in ihrem Sinne zu interpretieren. Olaf Scholz, Armin Laschet, Annalena Baerbock, Christian Lindner... sie alle führten das Wort. Eine aber stand mit Mundschutz und gefalteten Händen in einer der hinteren Reihen und schwieg. Angela Merkel ist nur noch eine Randfigur, fast schon Geschichte. Das ist eine der wenigen Gewissheiten dieses Wahlabends.

Die Bundestagswahl markiert unwiderruflich den Abschluss der Ära Merkel. Eine Zeitenwende, wie viele sagen. In einer solchen Situation kann ein Blick von außen nützlich sein. Den hat der britische Historiker, Europakenner und Karlspreisträger Timothy Garton Ash. Für ihn ist die wichtigste Nachricht dieser Wahl: «Das Land in der Mitte Europas bleibt auch politisch ein Land der Mitte. Ob Jamaika oder Ampel, es wird eine Koalitionsregierung der Mitte sein. Aber eine kompliziertere!»

Bundestagswahl_Moegl_71096166.jpg

Bundestagswahl: Mögliche Koalitionen

Der Professor aus Oxford liest im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur zwei Botschaften aus dem Ergebnis heraus: «Erstens: Man möchte Wandel, aber bitte nicht zu viel. Und zweitens: Viel mehr Wählerinnen und Wähler haben für Olaf Scholz als Person gestimmt als für Armin Laschet. Das geht ganz klar aus den Umfragen hervor. Und ich wage zu behaupten: Wenn man die gleiche Umfrage in ganz Europa machen würde, wäre das Ergebnis vergleichbar. Das kann ungerecht sein. Herr Kohl und Frau Merkel sind auch sehr im Amt gewachsen. Das wäre auch bei Armin Laschet denkbar, aber so wie es jetzt aussieht, will man doch Olaf Scholz, den Staatsmann in spe.»

Blick auf «Jahrhundert-Herausforderungen»

Was Garton Ash als «Wandel, aber bitte nicht zu viel» beschreibt, fasst der Psychologe Stephan Grünewald als «Weiter so mit grünem Anstrich» zusammen. Grünewalds Kölner Rheingold-Institut hat in den vergangenen Wochen Wählerinnen und Wähler in tiefenpsychologischen Interviews befragt. Das Ergebnis: «Die Menschen waren nicht in Aufbruchsstimmung. Nach eineinhalb Jahren Corona sind sie vollauf damit beschäftigt, ihren Alltag wieder in den Griff zu bekommen, und deshalb sind sie sehr auf sich selbst bezogen.»

Viele hätten sich in ihr privates Schneckenhaus verkrochen. Hin und wieder strecken sie die Fühler heraus und merken: Da draußen ist es extrem ungemütlich. Delta-Variante des Coronavirus, Flutkatastrophen, Versagen des Westens in Afghanistan... «Die Wähler haben das Gefühl, sie stehen vor Jahrhundert-Herausforderungen, und das stürzt sie in ein fundamentales Machbarkeitsdilemma», analysiert Bestsellerautor Grünewald («Deutschland auf der Couch»). «Die meisten leugnen nicht, dass die Probleme riesig sind, aber sie haben keinen Plan, wie sie gelöst werden können - und sie wollen sich selbst auch nicht einschränken und Verzicht leisten müssen.»

Ähnlich sieht es der Berliner Kampagnenberater Julius van de Laar, der im US-Wahlkampf 2012 die Wählermobilisierung für Barack Obama im Schlüsselstaat Ohio leitete: «Der Kontext dieser Bundestagswahl war: Draußen in der Welt verändert sich alles. Das ist das Szenario, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger wiederfanden. Und dabei haben sie sich die Frage gestellt: Wer ist der oder die Richtige, um uns dadurch zu navigieren? Wer kann das Vakuum ausfüllen, das Angela Merkel hinterlässt?»

«Der vorherrschende Wunsch bei dieser Wahl war der nach Beständigkeit»

Es wäre naheliegend gewesen, wenn die Antwort auf diese Frage «Armin Laschet» gelautet hätte. Bis Juli sah es in den Umfragen ja auch ganz danach aus. Dass die CDU am Ende ihr historisch schlechtestes Ergebnis hinnehmen musste, hat nach Erkenntnissen von Grünewald sehr viel mit Laschets Lach-Lapsus im Flutgebiet zu tun: «Unsere tiefenpsychologischen Interviews haben gezeigt: Die Wähler kannten die Wahlprogramme nicht, aber dass Laschet gelacht hat, das hatte jeder mitbekommen.» Der Kanzlerkandidat der Union sei als unbeständig erlebt worden und habe so sein Konstanz-Versprechen selbst unterhöhlt.

Erst die Schwäche der CDU machte den Aufstieg der SPD möglich - darin sind sich viele Experten einig. «Der vorherrschende Wunsch bei dieser Wahl war der nach Beständigkeit», sagt Julius van de Laar. Die meisten hätten nach Corona nicht auch noch eine OP am offenen Herzen der Gesellschaft durchlaufen wollen. Genau dieses Versprechen hätten sie von Olaf Scholz bekommen. «Seine Botschaft war: "Ja, da kommt Veränderung auf euch zu, aber ich mach das mit einer extremen Gelassenheit. Euch passiert nicht wirklich was. Geht alle wieder schlafen, ich wecke euch, wenn's vorbei ist."» Die Hauptnachrichtensendung des niederländischen Fernsehens stellte Scholz ihren Zuschauern am Wochenende mit den Worten vor, dieser Typ sei ziemlich langweilig, «aber das ist in Deutschland kein Nachteil».

Langeweile oder zumindest Normalität wünschen sich nach der Pandemie viele. «Staatsfürsorge ist für viele Bürger wichtiger geworden», stellt der Politologe Karl-Rudolf Korte fest. «Der schützende Vorsorgestaat wird gewählt. Die SPD hat hier die eindeutig besseren Kompetenzwerte aus Sicht der Bürger.» Der ganz große Umbau zur grünen Republik wurde dagegen erst nochmal verschoben. Van de Laar glaubt: «Wenn wir das Gefühl hätten, wir würden wie die Frösche in heißem Wasser gekocht werden, ja dann wäre es vielleicht die Richtungswahl gewesen, bei der man gesagt hätte: "Wir müssen jetzt eine radikale Wende einleiten." Aber dieses Gefühl haben eben nicht genug Leute gehabt.»

Koalitionsbildung steht noch bevor

Dazu kommt: Deutschland liebt generell keinen radikalen Wechsel. In anderen Ländern schwingt das Pendel regelmäßig in die entgegengesetzte Richtung aus. In den USA etwa unterzeichnete Joe Biden am Tag seiner Vereidigung zum Präsidenten sogleich einen Haufen Dekrete, mit denen er Entscheidungen seines Vorgängers Donald Trump sofort außer Kraft setzte. Nicht so in Deutschland. Nur ein einziges Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurden zwei Oppositionsparteien in die Regierung gewählt: 1998, beim Wechsel von Helmut Kohl zu Rot-Grün. «Sonst gibt es immer dosierte Machtwechsel», ruft der Politikwissenschaftler Korte in Erinnerung. Einer ist immer aus der alten Regierung mit dabei. Auch diesmal wird das so sein.

Wie geht es jetzt weiter? «Nach der Wahl ist vor der Wahl», sagt Timothy Garton Ash. Er meint die Wahl der Koalitionspartner. FDP-Chef Lindner kündigte am am Tag nach der Wahl in Berlin selbstbewusst an, «Vorsondierungen» mit den Grünen aufzunehmen. Das hat es so auch noch nicht gegeben - bisher sah man immer erst mal die Größeren am Zug.

Auffällig ist dabei, dass die 18- bis 24-Jährigen vor allem die Grünen und die FDP gewählt haben. Möglicherweise haben sie damit die Zukunft schon vorweggenommen. Parteienforscher Korte sprach im ZDF von einer «neuen jungen Bürgerlichkeit». Im grün-gelben Wählermilieu gebe es viele Schnittmengen: «Die Kohorte kennt sich ja, die hat nur auf dem Schulhof in unterschiedlichen Ecken gespielt.» Als verbindende Werte sieht Korte unter anderem moralischen Ernst, moderne Autonomie und sozialstaatliche Pragmatik. «Das ist eine junge dynamische Bürgerlichkeit, und die sucht sich jetzt neue Partner.» Wenn dem so ist, könnten sich Grüne und Liberale vielleicht schneller einig werden, als man es sich vor der Wahl hat vorstellen können.

Christoph Driessen, dpa

 {
 "excerpt": "Zeitenwende in Deutschland: Die Ära Merkel ist zu Ende, aber was nun folgt, ist noch unklar. Deutlich ist für viele Experten: Das Land in der Mitte Europas hat mal wieder sehr deutsch gewählt.",
 "creationDate": "2021-09-29",
 "permalink": "https://ednh.news/de/der-waehler-hat-gesprochen-wandel-aber-bitte-nicht-zu-viel/",
 "language": "de",
 "categories": "Wahlen",
 "media": "Foto|Infografik",
 "imageFeatured": "https://ednh.news/wp-content/uploads/2021/09/Bundestagswahl_2021_71035632.jpg",
 "status": "publish",
 "authorId": "8",
 "author": "dpa"
}