Porto - Die Kulisse ist prächtig mit der eng verschachtelten Altstadt und dem spektakulären Blick auf den Fluss Douro. Doch in Porto ging es jüngst beim EU-Sozialgipfel nicht um Hochglanz und Sonnenseite. Wie kommt Europa aus der Wirtschaftskrise, ohne die Ärmsten abzuhängen? Wie hält man Menschen fit für eine völlig neue Arbeitswelt nach der grünen und der digitalen Revolution? Wann verdienen Frauen endlich so viel wie Männer? Die EU-Staaten suchten in Porto Antworten. Einfach war es nicht.

Sozialgipfel - warum jetzt?

Im November 2017 einigten sich die Staaten im schwedischen Göteborg auf die sogenannte Säule sozialer Rechte. Sie enthält 20 Punkte. Chancengleichheit für Männer und Frauen, das Recht auf eine «gerechte Entlohnung», ein besserer Arbeitsschutz für Pizzaboten und Callcenter-Beschäftigte, ein Mindesteinkommen, angemessene Einkünfte im Alter - alles schon damals auf der Agenda. Nur war es eine eher unverbindliche Absichtserklärung. Nun nutzt die sozialdemokratische Regierung in Portugal ihre Zeit im Vorsitz der EU-Länder, um die Umsetzung voranzubringen. Die Furcht vor Jobverlusten und Unternehmenspleiten in der Krise macht die Anliegen noch dringender. «Dies kommt genau zur richtigen Zeit», sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in Porto.

Enorme Unwucht

In der EU gibt es traditionell drastische Unterschiede. So lag der mittlere Bruttoverdienst in Dänemark 2018 nach Angaben von Eurostat bei 4057 Euro pro Monat - in Bulgarien waren es gerade mal 442 Euro. In einer EU-weiten Umfrage 2019 sagten 6,9 Prozent aller Befragten, sie könnten aus Geldnot ihre Wohnung nicht ausreichend heizen. In Deutschland waren es 2,5 Prozent - in Bulgarien 30,1 Prozent, in Portugal 18,9 Prozent. In Deutschland waren im Januar 2021 laut Eurostat 6,2 Prozent der jungen Leute unter 25 Jahren arbeitslos - in Spanien 39,9 Prozent. Und so fort. Die EU ist wirtschaftlich in Unwucht, und die Corona-Krise hat dies noch verschlimmert.

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Medianeinkommen in der EU im Vergleich.

Die EU-Kommission hat im März einen Aktionsplan präsentiert, der die soziale Lage bis 2030 konkret verbessern soll. Zu den Zielen gehören: Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen mindestens 78 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 20 und 64 Arbeit haben - fünf Prozentpunkte mehr als 2019. Jährlich sollen mindestens 60 Prozent der Erwachsenen an einer Fortbildung teilnehmen und so den neuen Anforderungen gewachsen bleiben. Die horrende Zahl von 91 Millionen Menschen, die 2019 von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht waren, soll um mindestens 15 Millionen sinken. Zudem hat die Kommission einen Vorschlag für Mindestlöhne in allen EU-Staaten gemacht. Demnächst will sie einen Plan vorlegen, um Mitarbeiter von Digitalplattformen besser abzusichern, etwa Lieferando oder Uber.

«Erklärung von Porto»

Eine «Erklärung von Porto» begrüßt diesen Aktionsplan. Wirtschaft ankurbeln, Jobs erhalten, Armut lindern: In der Erklärung haben sich Vertreter der EU-Staaten, von Gewerkschaften und Arbeitgebern gemeinsam zu einem gerechten Aufschwung nach der Corona-Krise und zu einem sozialeren Europa bekannt. Sie verpflichteten sie sich auf konkrete Ziele, um die soziale Lage bis 2030 spürbar zu verbessern. Auch wenn sich in Porto alle einig schienen, wie wichtig ein sozialeres Europa sei, wird das Ergebnis des Gipfels wohl kaum verbindlicher als der Beschluss von Göteborg sein. Es gibt grundsätzlichen Kompetenzstreit: Vor zwei Wochen stellten elf EU-Staaten klar, dass sie in der Sozialpolitik auf die eigene Zuständigkeit pochen - die EU soll möglichst wenig konkrete Vorgaben machen. Die Interessen laufen weit auseinander, denn niedrige Löhne in östlichen Ländern gelten einigen Regierungen auch als Wettbewerbsvorteil im Binnenmarkt. Einige nördliche Länder fürchten, dass die EU ihre hohen Standards drückt.

Geld für Bildung und neue Jobs

Ähnlich tief ist die Kluft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, die in Porto ebenfalls mitdiskutierten. Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke frotzelte, man müsse aufpassen, dass da am Ende nicht nur stehe: «Wir finden alle gut, dass die Sonne scheint. Und wir wünschen uns, dass die Sonne noch viel häufiger und für viel mehr Leute scheint.»

Trotzdem sind Fortschritte nicht ausgeschlossen, denn mit denn 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfen der EU fließt in den nächsten Jahren eine Menge Geld auch in Bildung und neue Jobs. Je nach Stimmungslage sehe er das Glas mal halb leer, mal halb voll, sagt Radtke. «Die Tür für ein sozialeres Europa ist weit auf.» Man müsse die Staats- und Regierungschefs jetzt über die Schwelle schieben.

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