Was Wolodymyr Selenskyj an diesem Sonntag am Mahnmal für den weltweit ersten Atomwaffeneinsatz in Hiroshima durch den Kopf geht, weiß niemand. Der ukrainische Präsident steht dort in grüner Cargo-Hose und schwarzem Pullover mit ernstem Blick und legt dann weiße Blumen nieder - in Japan die Farbe der Trauer. Wenige Stunden zuvor hat das Verteidigungsministerium in Moskau mitgeteilt, dass Russland die ukrainische Stadt Bachmut nun komplett erobert habe. 70 000 Einwohner hatte sie, bevor sie jüngst zum Schauplatz der bislang längsten und verlustreichsten Schlacht des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Wie Hiroshima im Jahr 1945 ist sie heute nahezu vollständig zerstört.

Selenskyj ist zum Gipfel der sieben führenden demokratischen Industriestaaten (G7) gereist, eingeladen als Gast wie noch etliche andere Staats- und Regierungschefs. Er dementiert dort bei einer Pressekonferenz die Darstellung Moskaus, dass Bachmut gefallen sei - macht aber gleichzeitig deutlich, wie düster die Lage in der Ukraine weiter ist. Die Bilder, die er im Friedensmuseum von Hiroshima gesehen habe, erinnerten ihn an das, was er in seinem Land sehe, erzählt er. «Ich habe nur Tränen in meinen Augen», sagt er über Fotos von Kindern und Babys vor ihrem Tod.

Schreckensszenario von Hiroshima

Selenskyj weiß, dass Zerstörungen wie die in Bachmut bei weitem nicht das Schlimmste sind, was seinem Land in dem Krieg passieren kann. Wie vermutlich kein anderer Staats- und Regierungschef muss der ukrainische Präsident fürchten, dass sein Land das zweite sein wird, gegen das in einem Krieg eine Atombombe eingesetzt werden könnte. Wenige Tage nach dem Abwurf der US-Atombombe «Little Boy» auf Hiroshima kapitulierte Japan. Die Detonation tötete auf grausame Art und Weise sofort 70 000 Menschen, Zehntausende weitere starben später an den Folgen - zum Beispiel an Strahlenkrankheiten.

Kann der Ukraine ein ähnliches Schicksal wie Japan drohen, falls die Streitkräfte von Russlands Präsident Wladimir Putin im Krieg gegen das Land an den Rand einer Niederlage gebracht werden? Selenskyj ist zum G7-Gipfel nach Japan gereist, um ein solches Schreckensszenario ein Stück weit unwahrscheinlicher zu machen.

In Hiroshima sind nicht nur Unterstützer wie US-Präsident Joe Biden, Kanzler Olaf Scholz oder der französische Staatschef Emmanuel Macron anwesend, sondern auch mächtige Politiker, die sich bislang noch nicht eindeutig zum Krieg gegen sein Land positioniert haben.

Selenskyj versucht weitere Länder zu überzeugen

Da ist zum Beispiel der indische Premierminister Narendra Modi, dessen Land sich einer Verurteilung der russischen Invasion in der UN-Vollversammlung verweigert. Oder der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der für die Gründung eines «Friedensclubs» unter Einbeziehung des russischen Partnerlandes Chinas geworben hat und der deswegen unter Verdacht steht, zu denjenigen zu gehören, die einen von Russland diktierten Frieden akzeptieren würden.

Selenskyj versucht in Hiroshima, auch sie auf seine Seite zu ziehen, ihnen zu erklären, dass es auch für ihre Länder besser ist, wenn Russland mit dem Versuch scheitert, sich mit Waffengewalt die Macht über fremdes Land zu sichern.

Optimisten sind der Ansicht: Je einsamer und isolierter Putin in der Weltgemeinschaft ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Atomwaffeneinsatz wagt, um den Krieg für sich zu entscheiden. Und desto höher ist auch die Chance, dass irgendwann eine erfolgreiche Friedensinitiative gestartet werden könnte, deren Bedingungen nicht von Moskau, sondern von Kiew bestimmt werden.

Kein Frieden ohne russischen Truppenabzug

Die Hoffnung des Westens ist, dass vielleicht über die G20-Gruppe der führenden Industrie- und Schwellenländer etwas erreicht werden könnte. In ihr ist Russland noch immer Mitglied. In diesem Jahr hat Indien den Vorsitz der G20, im nächsten Jahr ist es Brasilien.

Selenskyj hat inzwischen erkennen lassen, dass er gegen Friedensinitiativen anderer nichts hat - wenn der ukrainische Friedensplan Grundlage dafür ist. Der sieht einen kompletten Truppenabzug Russlands aus den besetzten Gebieten vor.

Da es bislang keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass Russland dazu bereit sein könnte, braucht Selenskyj von der G7-Gruppe nicht nur diplomatische Hilfe, sondern vor allem Waffen. Um noch mehr davon zu bekommen, ist er vor der geplanten Großoffensive zur Rückeroberung besetzter Gebiete vor rund einer Woche schon durch Europa getourt, erstmals auch nach Berlin. Scholz hat ihm da als Gastgeschenk ein Waffenpaket im Wert von 2,7 Milliarden Euro mitgegeben. Darin: weitere Kampf- und Schützenpanzer, Flugabwehrsysteme und Munition. Aber kein Waffensystem neuer Qualität.

F-16-Kampfjets in Aussicht

Das bekommt Selenskyj nun in Hiroshima von US-Präsident Biden in Aussicht gestellt: die lange ersehnte Perspektive auf westliche F-16-Kampfjets für seine Streitkräfte. Biden gibt grünes Licht für die Ausbildung von ukrainischen Piloten an F-16-Jets - und dafür, dass europäische Partner die Maschinen aus ihren Beständen nach dem Pilotentraining auch liefern können. Ob die USA selbst Jets schicken werden, ist offen. Mit der Entscheidung leitet Biden nach langem Zögern eine politische Kehrtwende ein - und eine weitere Waffen-Wende in diesem Krieg, so ähnlich wie bei den Kampfpanzern. Biden war lange dagegen, westliche Jets zu schicken. Sein Einlenken dient vor allem dazu, die Allianz für die Ukraine zusammenzuhalten. Europäer drängten zunehmend lautstark dazu. Es ist aber auch eine Botschaft an Putin.

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Grafik: Wer F-16 Kampfjets hat

«Wir werden nicht wanken», sagt Biden zum Abschluss des G7-Gipfels mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine. «Putin wird unsere Entschlossenheit nicht brechen.» Ein Einwand, der Biden lange zurückhielt, ist die Sorge, dass der Konflikt durch die Jets eskalieren könnte - dadurch dass Ukrainer mit den westlichen Maschinen Ziele auf russischem Territorium angreifen könnten, Putin dann kein Halten mehr kennt und der Krieg zum Flächenbrand wird. In Hiroshima sagt Biden, Selenskyj habe ihm eine klare Zusage gegeben, dass das nicht passieren werde.

«Ein großartiger Beschluss.»

Und wo steht Deutschland bei den Jets? Ob die Bundesregierung das Projekt unterstützt, ist bis heute unklar. Selenskyj hat sich das bei seinem Berlin-Besuch gewünscht. Scholz kann eine gewisse Skepsis aber nicht verbergen. «Das, was mit der Ausbildung von Piloten verbunden ist, ist ja ein längerfristiges Projekt», sagt er in Hiroshima. Die USA hätten noch gar nicht endgültig entschieden, «was am Ende der Ausbildung dann stehen wird».

Selenskyj ist das egal. Für ihn ist wichtig, dass das Kampfjet-Projekt erst einmal in der Spur ist. «Ich bin sehr glücklich», sagt er am Rande eines Treffens mit Macron. Die Entscheidung werde den Menschen in der Ukraine helfen, ihre Häuser und Familien zu schützen - auch wenn noch einiges vorzubereiten sei. «Es ist ein großartiger Beschluss.»

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