Mijas - Sarah Hawes muss tief schlucken, bevor sie antwortet. «Ja, ich fürchte, alles kann passieren. Alles ist möglich, nichts ist mehr sicher.» Der Brexit hat die schon seit einigen Jahren in Mijas an der Costa del Sol lebende Britin jäh in tiefe Unsicherheit gestürzt. Aber nicht nur die 58-Jährige: In der bei britischen Touristen, Winterresidenten und Auswanderern besonders beliebten Region im Süden Spaniens macht sich immer mehr Zukunftsangst breit.

Mit rund 11 500 der über 300 000 in Spanien landesweit eingetragenen Residenten aus England, Schottland, Nordirland und Wales ist die 77 000-Einwohner-Gemeinde Mijas die größte Briten-Hochburg der Costa. Die «Dunkelziffer» der Briten liegt hier aber sogar mindestens dreimal so hoch. Kein Zufall also, dass ausgerechnet hier, in diesem Städtchen mit Strand und einem charmanten historischen weißen Zentrum hoch oben in den Hügeln eine kleine Gruppe ebenso besorgter wie resoluter Briten schon im Sommer 2016 kurz nach dem Votum ihrer Landsleute für einen Austritt aus der EU die Organisation «Brexpats in Spain» gegründet hat.

Inzwischen hat man mehr als 3000 Mitglieder und Vertreter in vielen Teilen Spaniens. Es handele sich um keine Protestgruppe, die den Brexit verhindern wolle, betont Präsidentin Anne Hernández. Es gehe vielmehr darum, den Leidensgenossen mit Information, Rat und Tat zur Seite zu stehen und den Betroffenen, die zum Teil «im Schockzustand» seien, vor den Behörden eine Stimme zu verleihen. Der Beistand ist, wenn man sich bei einem Besuch in Mijas die Klagen der Betroffenen anhört, auch dringend nötig.

«Regeln werden unter den Füßen weggezogen»

«Ich bin sehr besorgt. Werde ich das Recht haben, weiter hier in Spanien zu leben und zu arbeiten? Mein Mann ist Rentner, ich muss unbedingt dazuverdienen», sagt Sarah Hawes bei einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur und weiteren Betroffenen sichtlich mitgenommen. «Und werde ich für das ganze Geld, das ich eingezahlt habe, später hier Rente bekommen? Es gibt noch sehr, sehr viele, Fragen, auf die es keine Antworten gibt», klagt die Angestellte.

Glyn Emerton und Gattin Kath sitzen auch mit am Café-Tisch. Die Vorstandsmitglieder und Mitgründer der «Brexpats» sind vor zehn Jahren daheim in Luton nördlich von London in Rente gegangen, seit sechs Jahren residieren sie in Mijas - und verstehen plötzlich die Welt nicht mehr. «Wir sind unter bestimmten Regeln hierhergekommen. Und nun werden uns diese unter den Füßen weggezogen», klagt Glyn. Victoria Westhead aus Liverpool, seit vier Jahren in Málaga als Rechtsanwältin tätig, fragt verzweifelt lachend in die Runde: «Werden meine Qualifikationen hier weiter anerkannt werden, werde ich mit 42 wieder die Unibank drücken müssen?»

Der frühere Airline-Mitarbeiter Glyn weist daraufhin, dass die Abwertung des Pfundes in Folge der Brexit-Unsicherheit bereits zu einer «schrecklich großen Reduzierung» der Paychecks aus der Heimat geführt habe. Zudem werde man nach dem Brexit vermutlich das Recht auf die jährlichen Rentenerhöhungen verlieren, betont der 64-Jährige. Größte gemeinsame Sorge der vorwiegend älteren Residenten an der Costa sei aber die Beibehaltung der spanischen öffentlichen Krankenversicherung. «Wir haben in England 40 Jahre eingezahlt. Werden wir hier eine private Versicherung abschließen müssen?»

Brexit treibt seltsame Blüten

Bei Treffen mit Bürgermeistern wie Juan Carlos Maldonado (Mijas) und Víctor Navas (Benalmádena) wurde den «Brexpats» Unterstützung zugesagt. In Madrid hat der Ministerpräsident immerhin versichert, auch er sei sehr besorgt.

Im Interview mit der Deutschen-Presse Agentur warnt der Sozialist Navas, ein schlechtes Brexit-Management an den höchsten Stellen könne an der Costa «gravierende soziale und finanzielle Probleme» auslösen. Der Sozialist will nicht tatenlos zusehen, sondern die Betroffenen beraten und auch bei den höchsten Stellen seiner Partei - in Madrid zur Zeit in der Opposition - anklopfen.

Der Brexit treibt seltsame Blüten. Die Angst der Briten geht so weit, dass man befürchtet, Spanien könne sie direkt oder indirekt aus dem Land jagen – je nachdem, wie London die vielen in Großbritannien lebenden Spanier behandeln wird. Das wäre in Fällen wie jenem der Lucie Whiddon besonders dramatisch. Die Grundschullehrerin und allein erziehende Mutter eines Fünfjährigen wurde als Tochter eines Auswanderer-Ehepaars an der Costa geboren. Unter den Freunden sind praktisch keine Briten - und dennoch muss die 35-Jährige um ihre Zukunft bangen. «Aus Spanien wegzugehen ist für mich keine Option. Und ich werde alles tun, damit das auch nicht passiert», sagt sie.

Für Lucie und sie alle gibt es einen Rettungsanker: Die Beantragung der spanischen Nationalität. «Man muss ein Sprachtest bestehen, aber auch Fragen zur Geschichte, Kultur, Politik, Geographie des Landes beantworten. Und sogar Sport-Fragen. Kein piece of cake also», sagt Sprachlehrerin Hernández. Weitere Haken: Man muss mindestens zehn Jahre im Land residiert haben und auf die britische Staatsbürgerschaft verzichten. Und dennoch: Glyn & Co. sind alle dazu bereit, auch wenn man in Zukunft Probleme bekommen könnte, in der Heimat Kinder und Enkelkinder zu besuchen. «Mache ich sofort!»

«Ich gehe nicht zurück nach Großbritannien.»

Eine Frage liegt in der Luft: Wäre es so schlimm, zurückkehren zu müssen? «Das wäre schrecklich», sagt Kath kopfschüttelnd. Einige in der Runde sagen, man könne die Wohnungen in England nicht mehr bezahlen, andere führen an, nicht nur das Klima, auch die medizinische Versorgung sei in Spanien viel besser als daheim.

Einigkeit herrscht aber vor allem in einem Punkt, den Glyns 67 Jahre alte Ehefrau leidenschaftlich hervorhebt. «Jedes Mal, wenn wir in England sind, ist es wie eine andere Welt. In England geht man nicht raus, es ist dunkel, wir passen da nicht mehr hin». «Ich gehe nicht zurück nach Großbritannien.»

Dabei haben Kath und Glyn in England Tochter und Enkelkinder. Auch Sarah Hawes hat in der alten Heimat Sohn und Tochter. «Aber ich verstehe England nicht mehr, für mich ist es wie ein fremdes Land. Spanien ist nun mein Land, es ist in meinem Herzen.» Sie ist davon überzeugt, dass sie die Provinz Málaga, in der auch Hollywoodstar Antonio Banderas zu Hause ist, so oder so nie verlassen wird: «Ich gehe nicht zurück, nicht einmal in der Kiste.»

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