Berlin - Die «letzte Gelegenheit» oder das Verpassen eines «glanzvollen Abgangs»? Angela Merkels angekündigter Rückzug von der CDU-Spitze ist auch in Europa ein großes Kommentarthema in den Zeitungen. Viele Kommentatoren erwarten unsichere Zeiten für die deutsche und auch die europäische Politik.
Italien
Die italienische Zeitung «Corriere della Sera» hält die Kanzlerin in Ehren:
«Wir werden Angela Merkel nachtrauern. Die Deutschen, die sie seit 2005 als Kanzlerin hatten, haben die schlimmste Wirtschaftskrise eines Jahrhunderts unbeschadet überstanden. Und wir Europäer, die ihr Zögern erlebt haben, aber auch ihre Fähigkeit, immer das Richtige zu machen, wenn es angebracht war und es keine Alternative gab: Sei es die Griechenlandkrise oder die Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Jetzt, wo ihre Dämmerung begonnen hat, zeichnet sich Merkel als historischer Gigant in diesem Stückchen des Jahrtausends ab.»
Niederlande
In der niederländischen Zeitung «de Volkskrant» heißt es dazu:
«Merkel gibt den Parteivorsitz bestimmt nicht aus freien Stücken ab. Aber ihre Entscheidung ist keine Panikreaktion. Es ist ein letzter Versuch, nach vorn zu schauen und ihrer Partei den erforderlichen Freiraum für eventuelle vorgezogene Neuwahlen zu verschaffen. Nach 18 Jahren hält die angeschlagene "Mutti" Merkel ihre Kinder für erwachsen genug, um über die Zukunft der Partei zu bestimmen - und sie nimmt in Kauf, dass sich dabei eines ihrer Kinder als Muttermörder entpuppen könnte.»
Großbritannien
Die britische «Times» spricht von Instabilität in der Bundesrepublik:
«Ihr langer Abschied - angekündigt, nachdem ihre Partei in landesweiten Umfragen abgesackt ist und bei den Wahlen in Hessen Prügel bezogen hat - läutet eine Periode der Instabilität in der größten Volkswirtschaft Europas ein. (...) Der Machtkampf um ihre Nachfolge als Parteivorsitzende und als Regierungschefin wird wahrscheinlich chaotisch.»
Der britische «Guardian» findet, dass Merkel an der Flüchtlingspolitik gescheitert ist:
«Doch die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 - zu der sie eine liberale und pragmatische Haltung einnahm - brachte Konsequenzen mit sich, die sie nicht gemeistert hat. Ihr Nachfolger wird bei der bedeutenden Aufgabe, unserem verängstigten Kontinent wieder Zuversicht zu geben, aus ihren Stärken ebenso wie aus ihren Schwächen lernen müssen.»
Ungarn
Die regierungsnahe ungarische Tageszeitung «Magyar Idök» sieht bereits weitere Kandidaten wackeln:
«An Merkel zeigt sich, wohin der vielfache Verrat führt. Gerade noch hat sie (den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor) Orban in Sachen Europäertum, Demokratie, offene Gesellschaft, Solidarität und wer weiß was noch belehrt. Jetzt packt sie schön ihre Sachen und kehrt vielleicht in die ehemalige DDR zurück. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge bereitet sich schon der nächste aufs Kofferpacken vor: Macron. Die normale Welt hat die Tür aufgetreten.»
Belgien
Die belgische Zeitung «De Standaard» sieht keine Entspannung auf die deutsche Politik zukommen:
«Es ist fraglich, ob Merkel all die Probleme lediglich mit Übergabe des Parteivorsitzes plötzlich lösen kann und dann damit anfängt, "tatkräftig" zu regieren. Die Kritik innerhalb der Partei wird nicht plötzlich aufhören, nur weil ein neuer Vorsitzender gewählt wird. (...) Und wenn Merkel als CDU-Vorsitzende zurücktritt, sollte nicht auch Horst Seehofer das in der bayerischen CSU tun?»
Spanien
Schwierige Zeiten auch für Europa erwartet die spanische Zeitung «El Mundo»:
«Merkel ist nicht nur Deutschland. Zusammen mit Frankreich verteidigt sie schon seit vielen Jahren standhaft jene Werte, die Europa zu einem der Räume der demokratischen Welt mit dem größten Wohlstand und Fortschritt gemacht haben. Und das, ohne auf die Gründungsprinzipien der EU wie den Schutz der Menschenrechte, die Bürgergleichheit und den freien Markt zu verzichten.»
Dänemark
Die dänische Tageszeitung «Politiken» betont, wie wichtig eine europäische Ausrichtung von Merkels Nachfolge ist:
«Für Europa ist jetzt wichtig, dass Deutschland eine neue Führungsfigur bekommt, die die europäische Dynamik wiederbeleben kann, über all den "Mein-Land-zuerst"-Agenden steht und gleichermaßen europäisch wie deutsch denkt. Das vermochte Angela Merkel viele Jahre lang über weite Strecken. Und das ist genau das, was Europa braucht.»
Frankreich
Die französische Regionalzeitung «Ouest-France» fragt, wie Merkels Nachfolge am besten agieren sollte:
«Wie alle rechten europäischen Parteien ist die CDU geteilter Meinung darüber, wie man dem Auftauchen einer nationalistischen, xenophoben und identitären Kraft an ihrer rechten Seite die Stirn bieten soll. Muss man dieser Gesinnung den Hof machen, so wie die bayerische CSU von Innenminister Horst Seehofer es in den letzten Monaten versucht hat und dabei viele Federn gelassen hat? Oder muss man sich davon distanzieren? Die Zweitplatzierte hinter Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer (...), ist für die zweite Option.»
Bulgarien
Die sozialistische Oppositionszeitung «Duma» in Bulgarien kommentiert hingegen:
«Das, was als (Merkels) Erbe in Europa bleibt, wird noch lange Zeit glühen und Staaten und Völker ersticken. Weil gerade Merkel zu den führenden Politikern gehört, die das drastische neoliberale Modell zur Ausbeutung der Schwächeren durchsetzten (...). Diese Schlinge führte am Ende Länder wie Griechenland an den Abgrund des Bankrotts.»
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